Frank de Neui |
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Novelle |
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Frank de Neui:
Brücke ins Nichts. Novelle (2004)
Zeichnungen vom Verfasser/Drawings by the author
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Zuschriften/Email: FrankdeNeui(at)web de
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Schriftart/Font: Beautiful /Times
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Jetzt ist es also vollbracht, mein Junge: Tausendmal bist du dran vorbeigefahren, hast auf die Fenster geblickt und dir Gedanken gemacht – und nun bist du selber drin, im Landeskrankenhaus, in der Abteilung für Männer römisch zwei – der Volksmund sagt: Klapsmühle.
Einmal drin und nie mehr raus! Oder glaubst du wirklich, dass du noch einen Ausweg findest? Die Hochschule kannste vergessen, die Polit-Karriere auch, und deine Familie, deine Freunde, was werden sie jetzt von dir denken?
Der Pfleger dort läuft herum wie der Henker vom Sheriff zu Nottingham, und sein Robin Hood fällt ohne jeden Kampf, sobald er sich mit leichten Valium-Pillen halbherzig aus dem Leben stehlen will. Wer soll ihn ernst nehmen – die Sanitäter vom Rettungsdienst? Nur die Schwestern in der Zweiten Abteilung haben ihn gleich am Bettgestell festgezurrt. Nun wird nicht mehr mit Messer und Gabel gegessen! Die Tür zum Klo hat kein Schloss, auch die Duschtür bleibt offen.
Ha! Jetzt huscht wieder dieser Pfleger an deinem Tisch vorbei, den du so schnuckelig findest, der große Schlanke mit den schlaksigen Armen und Beinen, mit den braunen, kurzen, glatten Haaren, den schwarzen Augen, dunkler Haut und diesem zarten Gesicht, der, halb Junge, halb Mann, in dir eine unheimlich unangemessene, wohlige Wärme emporsteigen lässt... Oh Gott, jetzt kriegst du gleich einen Magenkrampf, musst mal eben schnell Kotzen und Scheißen, haha, unser Abführzeug von gestern wirkt immer noch: Das macht einen Stuhlgang wie Wasser.
Hier fühlst du dich fremd, hier passt gar nichts mehr. Es darf doch nicht wahr sein, dass du auch zu den Männern in der Zweiten Abteilung gehörst – was immer das heißen mag? Manche sind dir sogar angenehm, etwa dieser Sechzehnjährige, der dich fragt, weshalb du hier bist. Er sei beinah von der Brücke gesprungen, du habest fast zu viele Pillen geschluckt, oh Gott, nur die Bullen und Ärzte hätten euch daran gehindert. Schockschwerenot, mein Junge, halte dich fest: Noch so eine Geschichte, und dann?
Der Oberarzt verhindert, dass Christina mich sprechen kann. Stattdessen wird Tom, unser Kurssprecher, der mir Wäsche bringt, beauftragt, mich ganz doll von ihr zu drücken und zu grüßen. So bin ich, eingesperrt mit neun Leidensgenossen auf Zimmer zweihundertsieben, nicht mehr Herr meiner selbst.
Tom ist ein toller Kerl: Chrissi bietet er an, sich bei ihm auszuheulen, sie ist allein hier. Nicht nur, dass er mir Wäsche bringt, nein, sogar meiner Ex steht er bei, obwohl wir gar nicht befreundet sind.
Doch was wird mein politischer Mitstreiter Urs tun? Unterstützt er weiterhin meine Kandidatur für den Stadtrat, lässt er mich fallen, oder gönnt er mir eine Pause?
Musste es denn soweit kommen? Weshalb schließt man lebensmüde Menschen in eine Krankenstation, in der zehn Männer mit schweren seelischen und geistigen Erkrankungen in einem Saal hausen, gemeinsam essen und sich zwei Kloschüsseln teilen? Ist das hilfreich in ihrer Lage? Soll ich mich nicht mehr so wichtig nehmen?
Jetzt bittet einer um Feuer und fragt, ob sie mich bei der Bundeswehr auch so fertiggemacht hätten. Seit der Einberufung vor wenigen Wochen sei er schwermütig geworden. Auch ich fand es beim Heer, na ja, nicht gerade toll – doch hat sich mein Leben dort nicht sonderlich verändert. Dank Alkohol.
Oberarzt Dr. Kemp fragt, ob ich so unbescheiden sei, mich über andere Menschen zu stellen. Neunzig Minuten lang fühlt er mir auf den Zahn, ganz anders als mein Not-Therapeut Westheim, nicht so lasch und verständnisvoll. Hartnäckig bohrt er, um zu erfahren, was ich bei der Behandlung erreichen möchte, und nennt krass die Möglichkeiten: Ich kann vier bis acht Monate bleiben oder gleich nächste Woche nach Hause – wo ist das eigentlich? – zurückkehren. Dann bin ich erneut, genau wie gestern, mit den ungelösten Problemen allein. Was ich meinen Alten erzählen solle? Er sagt, ich müsse nicht mit ihnen reden.
Chrissi erscheint zum zweiten Mal, wir dürfen uns umarmen. Sie erzählt den Eltern heute Abend, man könne mich nicht besuchen. Auch wenn mein alter Vater und meine liebe Mutter vor der Tür stünden, ich empfinge sie nicht! Ich mag nicht fragen, was ich machen soll, sonst glauben sie, ich käme nicht mehr klar. Jeder muss doch selbst Entscheidungen treffen und sein Leben gestalten. Chrissi ermuntert mich zu tun, was für mich richtig sei. Das ist noch ein langer Weg.
Christina habe ich Ostern vor meinem achtzehnten Geburtstag kennen gelernt. Ich war an einen sechzig Kilometer entfernten Ort gereist, um in den Ferien schnell den Führerschein zu machen. Im Kurs und dem angeschlossenen Wohnheim traf ich dieses burschikose Mädchen, das meiner wahnsinnigen Begierde nach Vollkommenheit die Krone aufsetzte: Wie ein Himmelsgeschenk entsprach sie jedem Wunsch nach Eintracht und Verbindlichkeit.
Ich sah sie auf der Wiese sitzen und wollte sogleich mit ihr zusammenleben. Keine andere Frau hatte jemals meine Aufmerksamkeit gefesselt. Es ist klar, dass ich sie nicht sexuell begehrte: Sie war einfühlsam fürsorglich, dabei jedoch so selbständig, voller Willenskraft, gleichzeitig zart und zerbrechlich, dass ich sie vom ersten Augenblick an liebte und als aufrichtiger Held stets beschützen wollte. Es gab keinen Zweifel an ihren Eigenschaften, ich hob restlos ab und nahm keinerlei Wirklichkeit mehr zur Kenntnis.
Chrissi ließ mich eine heile, friedliche Welt erspinnen: Der gutaussehende, erfolgreiche, zupackende junge Staatsmann und seine beneidenswerte Gattin werden glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Es wäre die Erfüllung meines Lebens, die vollständige geistig-seelische Genesung, die familiäre Versöhnung und gesellschaftliche Rehabilitation, der Ausgleich für jedes empfundene Unrecht, meine entfesselten Gefühle – ach, wie sollte ich begreifen, dass ich euch niemals würde genügen können?
Ich begann einen aberwitzigen Kampf um Christina. Sie hatte sich in einen anderen Fahrschüler verguckt, doch ich tat alles, um sie auf lange Sicht zu gewinnen. Ich hatte zu Unrecht so oft verloren, diesmal musste das Glück sich fügen. Als der Lehrgang endete, schrieb ich ihr Briefe, besuchte sie, zeigte mich voll strahlender Liebenswürdigkeit und erkannte mich in ihrer Gegenwart kaum wieder. Zu Hause war es noch schrecklicher als in den Jahren zuvor. Ich wollte ihr Leben allein besitzen, hielt mich für unsterblich in sie verliebt, verband unser Schicksal, dachte ernsthaft an den Tod, wenn sie mich nicht nähme und weinte heftig in den Wochen der Niedergeschlagenheit ohne sie.
Ist also die Suche nach Liebe und Zuneigung mein Lebensinhalt geworden?
Das vorige Wochenende mit Reinhard war so angenehm. Er hat viel über sich entdeckt, Schwieriges durchgestanden, er versteht sich zu präsentieren und zu behaupten. Ich dagegen kann abends nicht einmal mehr allein am Schreibtisch sitzen und lernen, noch schaff ich es, mich geistig zu sammeln. Seit vierzehn Tagen lehnt mein Farbdruck von Caspar David Friedrichs Eismeer neben der Zimmertür, doch komm ich nicht dazu, ihn aufzuhängen.
Im Fernsehraum sitzt unser fünfzehnjähriger Neuzugang mit einem Jahrgangsgenossen und labert Scheiße. Diese Überheblichkeit darf mir jetzt keiner übel nehmen: In dem Alter hab ich bestimmt nicht dermaßen herumgesülzt. Allerdings wär ich auch nicht so selbständig gewesen. Hätte ich denn als Halbwüchsiger ohne Mutter auf der Straße überlebt?
Ich beginne ein Buch zu lesen, das Christina mir mitgebracht hat: Das Leben zwischen den Sternen, eine schwule Liebesgeschichte. Chrissi ist immer hilfreich, rücksichtsvoll und herzensgut zu mir! Sogar ihren altgedienten, knuffigen Stoffnarren, den August, der seit Kindestagen an ihrer Brust geschlafen hat, schleppt sie herbei.
Ich verliebe mich sofort in ihn: Braune Klumpfüße quellen ihm aus dem lila linken und dem blauen rechten Nadelstreifenbein hervor, auf dem Knie prangt ein blutrotes Herz, eine Halskrause schließt die blau-grün-gelb gewürfelte Steppjacke ab, und sein sandfarbenes Mondgesicht mit Kreuzaugen und Knopfnase wird von einem weißen Haarkranz umsäumt. Du scharmanter Tröster, besiegle unsere Freundschaft, sei der Held in jeder Gefahr!
Es ist Vormittag, fast halb zehn, und ich fühle mich ziemlich müde, da ich gestern wegen des Lärms im Saal ein Schlafmittel genommen habe. Das Herumalbern der Halbwüchsigen wie auch die Schnarcherei lassen mir keine Ruhe. Nicht einmal Bücher lesen darf ich, so lange ich will: Um zweiundzwanzig Uhr muss das Licht gelöscht sein.
Die Ärzte gelangen bei ihrem Rundgang zum Bett eines Polen, der daheim öfters ausgerastet ist. Mir fällt auf, dass er viel schläft. Jetzt mag er plötzlich nicht mehr reden und bleibt stumm. Man spricht über sein Zuhause – ich sollte nicht lauschen, ich fühle mich schmutzig.
Ich musste heute Morgen eine Stunde lang auf das Frühstück warten, da mir nochmals Blut abgezapft wurde, mittlerweile habe ich neun Einstiche im Arm; auch eine Pinkelprobe war abzuliefern. Draußen regnet es: dreiviertel zehn und noch ganz dunkel und trüb, richtiges Depressionswetter.
Als ich an der verschlossenen Eingangstür der Abteilung vorbeilaufe, öffnet ein Arzt für Christina die Tür, verwehrt ihr aber den Einlass, weil keine Besuchszeit ist. Sie darf mir den Morgenmantel und einen Apfel in die Hand geben. Meine Eltern wüssten Bescheid, sagt sie noch. Ein Kuss – und Tschüß.
Ich kriege Angst, richtige Angst, so sehr, dass ich mir wieder als Erleichterung den Tod vorstellen kann. Selbstmord, die Zweite? Nein. Ich rauche zitternd einen Glimmstängel auf, Tränen steigen mir ins Gesicht. Ich will Vater und Mutter nicht sehen, ich muss etwas dagegen tun. Dr. Kemp soll sie anrufen und ihnen sagen, sie könnten mich nicht besuchen. Ich schäme mich nicht, in dieser Zweiten Abteilung zu sein, ich habe Angst vor den Eltern. Ich fürchte geheuchelte Zuneigung meiner Mutter und erst recht vorwurfsvolle, Schuld zuweisende Blicke meines Vaters. Ich will Ruhe.
Plötzlich durchströmt Erleichterung meinen Körper, als Musik aus dem Tagesraum in mein Ohr klingt und ich eine weitere Kippe rauche. In diesem Augenblick wirken die Menschen, die mich umgeben, nicht mehr beängstigend, nun sind sie Grundlage der Sicherheit, die ich genieße. Lasst mich einfach hier bleiben!
Dr. Kemp unterstützt mich und meint, er würde seine Eltern in solch einer Lage auch nicht sehen wollen. Er ist nett und verständnisvoll, aber wie üblich bestimmend. Er fragt, weshalb ich etwas zu bekommen suchte, das nie zu kriegen war. Das ist es: Meine Eltern sind keine Heils- sondern Geldbringer. Ruhig bleiben. Dr. Kemp hat sie noch nicht erreicht. Wird er sie abwimmeln, wenn sie schon unterwegs hierher sind? Hoffentlich wissen alle Pfleger Bescheid: Ich will die Alten nicht sehen!
Jetzt bin ich auf ein Zimmer verlegt worden. Über meinen gruseligen Bettnachbarn würde Chrissi sagen, sie bekäme Herzklopfen, falls er ihr im Dunkeln begegnen sollte. So wird man in diesem System anhand von Oberflächlichkeiten beurteilt. Auch ich unterdrückte mein Schwulsein jahrelang, weil eine große Mehrheit von Leuten, besonders unter Halbwüchsigen, schnell dumme Sprüche auf den Lippen hatte. Bedenke daher: Du bist nicht schwul. Das geht bald vorüber, wenn du erst eine Freundin findest. Verdränge!
Dass ich Christina getroffen habe, war ein Unglück, sonst hätte ich mich bereits früher offenbart und bekannt. Nun lebte ich als Frauenliebhaber und stellte das ungewollt Unterdrückte ruhig, indem ich mich bisweilen mit Männern befriedigte. Was für eine abartige Schweinerei, nein, was für abartige Schweine, die mich soweit getrieben haben! Scheinheilige, abgewichste Gesellschaft, verdammte bigotte Kopfseuche!
Eines Abends im Mai, als Christina, der von ihr umworbene Fahrschüler und ich auf einem Geburtstagsfest waren, wo ich später reichlich besoffen bei meiner großen Liebe verharrte, ergriff mich ein teuflischer Einfall: Ein Betrug sollte mir helfen. Schon oft hatte ich Eltern, Lehrern, Geschwistern, Freunden und allen, die beschwindelt werden wollen, diesen Gefallen getan. Was macht es aus, wenn Christina mich für eine Lüge nähme?
Ich versank in Selbstmitleid und erzählte von einem Geschwür, das mir nicht mehr viel Zeit zu leben ließe, wies auch jene Narbe auf meinem Bauch vor, die eine Magenoperation wegen eines Geburtsfehlers hinterlassen hat, jammerte bitterlich vor ihren Augen und gab zu verstehen, es sei furchtbar ernst um mich bestellt.
Tatsächlich zeigte sie Barmherzigkeit und umsorgte mich. Seit ich ihre ganze Aufmerksamkeit gewonnen hatte, tischte ich meinen potentiellen Krebs auch Mitschülern und Saufgenossen auf. Erst mit vierundzwanzig wird mir klar, wie sehr ich nach Liebe und Anerkennung hungerte, die mir vom Leben und von meiner Familie verwehrt worden waren: Es galt zu beweisen, dass ich liebenswert sei, dann hätte ich mich vielleicht auch selber gemocht.
Als ich im Sommer nach einer vorgetäuschten Untersuchung Entwarnung gab, flog Christina zu Verwandten in die USA. Da sie der andere Fahrschüler hintergangen hatte, hoffte ich auf die Zeit nach ihrem Urlaub. Bei ihrer Ankunft am Bahnhof sprang sie in heller Nietenhose, barfuß, braungebrannt und mit sonnengebleichten Haarstoppeln auf dem Kopf aus dem haltenden Zug vom Flughafen. Mit rosig-rot gespitzten Lippen kam sie mir lachend entgegen und umarmte mich. Dafür liebte ich sie, selbst mürrischen Greisen wäre ein Lächeln entfahren!
Dann folgte wieder eine schwere Zeit. Auch in stimmungsvollen Augenblicken wehrte Chrissi jedes Bemühen ab, von ihr ein Erwidern meiner Zuneigung zu erhaschen. Ich griff erneut zum Hilfsmittel der Heuchelei und drohte mit dem Ende unserer Freundschaft, obwohl ich es niemals ausgehalten hätte, sie nicht mehr zu sehen. Durch eine Freundin ließ ich sie wissen, ich ertrüge es nicht, in ihrer Gegenwart nicht Liebhaber und Lebensgefährte sein zu dürfen; ich würde nun ein Ende meines Leidens herbeiführen und nähme zur Erfüllung meiner Träume alles in Kauf, auch den Tod.
Daraufhin nahm der Wahnsinn seinen Lauf: Chrissi willigte ein.
Draußen scheint die Sonne. Dr. Kemp gewährt mir Ausgang, falls ich mich sicher fühle. Selbstverständlich möchte ich hinaus, hier geschieht mir bestimmt nichts. Mutter und Vater hat er bisher nicht erreicht, aber er versucht es gleich noch einmal. Draußen verpass ich nichts. Was heißt Ausgang: wie weit, wie lange? Ich darf auch laufen, bis ich erschöpft bin.
Endlich Zeit zum Nachdenken. Das Leben kann mir noch viel bieten, sobald ich die richtige Einstellung dazu gefunden habe. Irgendwann will ich wieder etwas Sinnvolles leisten – aber erst, wenn ich mein Unglück bewältige, ist Nennenswertes geschafft. Ich fürchte leider, dass meine Eltern mir den Geldhahn zudrehen. Wir haben uns aus zahlreichen Gründen auseinandergelebt und müssen künftig damit klarkommen. Können sie mich bestrafen und verletzen?
Ein paar Sonnenstrahlen, die durch einen Baum zu mir dringen, steigern mich in ungewohnte Heiterkeit hinein. Vielleicht erfreut mich der Gedanke, ich könnte die Mutterbindung lösen und wäre Vaters körperlich-seelischer Unterdrückung nicht mehr ausgesetzt.
Stampfende Klänge: Im Radio spielen sie There’s a party. Vor einigen Wochen musste ich bei diesem Lied immer weinen, sehnte mich nach Fröhlichkeit, feierte ausschweifende Feste – kein Spaß ohne Suff. Ein ganz einfacher Plan, Trauer und Angst ertrinken. Tolle Sackgasse! Ich trieb in den Rinnstein, auch ohne den besagten Vorfall wäre ich hier angeschwemmt worden. Schon wieder stecke ich mir eine Zichte an, weil fast jeder unheimlich viel raucht, sonst ist es kaum erträglich, hier zu sein; der plötzliche scheinbare Stillstand und die Ruhe fühlen sich wie Lähmung an.
Ich unterschreibe meinen eigenen Ausgang: halb elf bis halb zwölf, halb fünf bis halb sechs. Ein älterer Pfleger reicht mir den Zettel, auf dem ich bestätige, dass ich das Gelände nicht verlassen darf. Die Abteilung hat für dreißig Minuten Gruppenausgang, man schlendert im Hof ein bisschen auf und ab; die einen spielen Fußball, die anderen Badminton.
Thomas und Peter begleiten mich beim Spazieren. Beide sind wegen ihrer heftigen Kifferei hier, bis nächsten Freitag lediglich. Thomas ist siebzehn und etwas verpickelt; Hauptschüler. Peter ist vierundzwanzig, sieht aber jünger aus als ich, trägt ein Spitzbärtchen, hat braune Haare; Schlosser, arbeitslos. Sie stammen aus Friesland. Ich habe sie erst belächelt, weil sie so geschwollen sprechen, dabei kommt eigentlich nur Ernst in ihrer Stimme zum Ausdruck. Peter fragt, ob ich beim Reden Luft holen müsse, und ich antworte belustigt: Ich höre mir selbst gerne zu. Ich werde mich in der nächsten Woche gewiss öfter mit ihm unterhalten, er hat mein Gehetztsein bemerkt.
Um halb fünf kundschafte ich das Gelände aus. Ich entdecke Laden, Bücherei und Gaststätte, dort gönne ich mir zu guter Letzt einen Kaffee. Ich hoffe, dass Christina mich besucht, ich möchte die Leute sehen, die mir viel bedeuten. Trotzdem bessert sich meine Laune fast bis ins Überschwängliche.
Ich sehe den Kalender nach verplanter Zeit durch, um sie mir lustvoll zurückzuerobern. Das möge nicht heißen: Zukunft, lebe wohl. Bald will ich mit meinen Freunden in Verbindung treten, so lange werde ich lesen und schreiben, immerzu, wieder meinen Körper stärken. Dass ich hier länger bleiben wolle, kann ich nicht voller Überzeugung bejahen, allein die Sicherheit dieses Ortes gibt mir derzeit Freude und Kraft.
Schon als Kind bekam ich dieses wahnsinnige Selbstbild in den Kopf gepflanzt, besser als andere Menschen der Gesellschaft zu sein, ich werde noch lange darunter leiden!
Die Eltern formten aus mir ein genügsames Arbeitstier. Sie unterdrückten jeden Eigenwillen mit einem denkbar sicheren Mittel: dem Liebesentzug. Redekarg seit je, machten sie uns Kinder durch wochenlange Schweigsamkeit gefügig. Aus Furcht vor dieser Waffe griff ihr Verfahren jahrelang, auch bei meinen Geschwistern. Ich wünschte mir gelegentlich, sie hätten mich mehr geschlagen, wäre danach nur alles vorbei gewesen, doch sobald mich Zorn der Erziehungsberechtigten traf, folgte kurzer, heftiger Schelte stets noch Missachtung und Schweigen.
Sich selber taten sie das gleiche an. Hatte Vater zu lange unter Mutters gezischten Sticheleien und Spitzfindigkeiten gelitten, brach erbarmungslose Wut jäh aus ihm hervor, die alles blind zerstörte, auch jede Zuneigung, ein Donnersturm, an dem die anderen Schuld trügen, weil jeder gegen ihn sei.
Wenn Vater schrie, erstarrte mein Blut zu steifem Brei; kein Kind konnte solch niederschmetternden Worten standhalten, ich fürchtete jedes Mal um mein Leben. Irgendwann hörte ich auf zu glauben, dass mein Vater mich liebt, obwohl er bisweilen so freundlich war; jeder Stütze beraubt, fühlte ich mich zum Wettkampf gezwungen.
Um zunächst in gebotener Kürze einige Tatsachen zusammenzustellen, hier ein paar Highlights aus Vaters familiärer Schlägerlaufbahn: Als ich sieben war, brach er meiner Schwester den rechten Arm. Vier Jahre später rammte er mir seine Stiefel in den ohnehin kranken Bauch. Im Jahr meiner Volljährigkeit trat er, nach einem Streit mit Mutter, in unserer Abwesenheit sämtliche Türen im oberen Stockwerk ein, wobei ich bis heute nicht weiß, was Mutter geschah. Als ich mit zweiundzwanzig betrunken heimkehrte, schlug Vater mich die Treppe runter, sodass ich bewusstlos mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurde. Dort hatte man wegen eines violetten Streifens am Kopf den Verdacht, der Schädel könne gebrochen sein. Die übrigen regelmäßigen Schläge, Prügel, Ohrfeigen möchte ich an dieser Stelle nicht weiter beschreiben.
Während Vater sich dann allein und missachtet durch schweren Gram quälte, schüttete Mutter ihren Seelenmüll bei den Kindern aus. Eines Morgens, noch zu meiner Grundschulzeit, kauerte sie auf dem Küchenfußboden, heulte Rotz und Wasser und ließ mich, kurz bevor ich zum Unterricht aufbrechen musste, wissen, dass Vater sie verprügelt habe.
An manchem anderen Morgen, öfter als mir lieb war, erstürmte sie unser Zimmer, riss uns Brüder kreischend aus dem Schlaf, machte selbstgebastelte Papphäuschen platt und verwüstete die unaufgeräumte Spielwelt, bis kein Auge mehr trocken war. Als meine Schwester in der siebten Realschulklasse sitzen blieb und fortrannte, erlitt Mutter nach vergeblicher Hatz einen Kreislaufzusammenbruch und beauftragte meinen Bruder, dem ungeratenen Kind ihren jämmerlichen Zustand zu klagen.
Wenn die Nachbarn kamen, herrschte Freudentrugschein und Eierkuchenfrieden. Der Ehezweck meiner Eltern bestand im Gelderwerb durch nimmermüde Landwirtschaft; im Ausgleich für Gefühlskälte, Selbstzweifel und Glücksentbehrung erlangten sie beachtlichen Wohlstand. Unsere kaufgeile Gesellschaft vermittelte ihnen ein wenig von jener Wertschätzung, die Erfolgreichen gebührt.
Bevor ich anfing zu schreiben, hat Markus mit mir Schach gespielt, dadurch habe ich ihn überhaupt erst kennen gelernt. Bisweilen tritt er etwas feindselig auf; von ihm selbst höre ich, dass er seine Mutter und ihren Lebensgefährten niedergeschlagen habe, nachdem er von ihr angegriffen worden sei. Dies erzählt er mit frischem jugendlichen Lächeln, um peinvolle Berührtheit zu überspielen. Er dürfte ungefähr sechzehn Jahre alt sein.
Inzwischen ist im Tagesraum wieder ein Fernsehabend angebrochen. Als David sich an den Tisch setzten will und das unbeendete Brettspiel beiseite schiebt, wird er gleich lauthals von Markus angepöbelt. Ich muss den Streit schlichten. Zu mir ist der Hitzkopf meist recht freundlich, es belustigt ihn wohl, wie schlecht ich Schach spiele. David hingegen, der gestern noch im Wachsaal war und mit mir zusammen auf die Abteilung wechselte, mochte nicht erzählen, worunter er leide oder weshalb er hier sei. Mich geht es nichts an, was mit ihm los ist, aber ich mache mir eben immer meine Gedanken, auch über fremde Menschen.
Die bloße Gegenwart anderer beruhigt mich. Im Studentenwohnheim war ich trotz Vierergemeinschaft ziemlich oft allein. Ich fühlte mich dort sehr einsam und verlassen, nutzlos, überflüssig. Der Gedanke setzte sich fest, dass mir dieses Maß an Geselligkeit und Zuneigung, das ich brauche, niemand geben kann. Dennoch such ich weiter nach jemandem, der zu mir und zu dem ich passen könnte: Ein Mensch, der mich mag und mit mir leben will.
Schade, dass ich Reinhard dieses Wochenende nicht sehe. Wie wird er in Zukunft mit mir umgehen, nachdem wir uns so nahe waren? Er ist halt mit Thomas zusammen, und ich muss mir einen anderen suchen. Welche Schritte zum Schwulsein kann ich nach meiner Selbstoffenbarung tun? Dr. Kemp hält das für wichtiger als ein Hochschulstudium.
Spät abends überfällt mich wieder diese einsame, angstvolle, nur durch Ablenkung zu vertreibende Traurigkeit, der ich mich schon so oft ausgeliefert gesehen habe.
Heute Morgen verpenn ich beinahe das Frühstück. Ich bemerke weder die Putzfrau in unserem Zimmer, noch meinen Bettnachbarn, wie heißt er doch, der sich wäscht, soweit ich das hoffen will, und den Raum verlässt. Hier muss ich aufpassen, kein Langschläfer zu werden, fast alle verschnarchen täglich neun Stunden und mehr.
Meistens bin ich der letzte, der sein Frühstück beendet. Die anderen essen wenig und hastig, aber ich hasse Schlingerei, besonders morgens, weil sie bei mir zu Hause üblich war. Mein Vater und mein Bruder haben stets ein Wettfressen veranstaltet, denn wer schnell isst, der auch schnell arbeitet. Mir wird übel, sobald ich daran denke! Ich esse gern mit ausgeglichenen Menschen und schmecke, was jemand mit großer Mühe zubereitet hat. Irgendwann strengte sich Mutter beim Kochen bloß noch an, wenn wichtiger Besuch kam, ansonsten tischte sie Hau-Ruck-Fraß auf.
Ganz im Gegensatz zu Christinas Mutter, die gern ihre Lieben und Gäste bekocht. Vergaß ich einmal, ihre Kochkunst zu loben, bekam ich gleich ein schlechtes Gewissen. Chrissis Eltern meinten es immer gut mit mir, sie taten in meinem ersten Hochschuljahr so viel für mich, ohne je Hilfe zu erbitten, dass ich mich dauernd nützlich machen wollte, um den Anschein der Selbständigkeit zu wahren.
Die Verhältnisse in Christinas Elternhaus waren für mich zuviel des Guten, weil ich daheim diese Liebenswürdigkeit und solche Achtung vor rechtschaffenen Menschen nie kennen gelernt habe. Auf unserem Hof gilt die Macht des Geldes. Meinen Alten ist es einerlei, wie andere Leute Wohlstand erlangt haben; der Reiche genießt bei ihnen hohes Ansehen, der kleine Mann zählt kaum etwas. Schon das Wort Arbeiter spricht Mutter in ihrer plattdeutschen Mundart mit solchem Abscheu aus, dass sofort ihre Geringschätzung deutlich wird. Ob sie jemals gehört hat, dass alle Menschen gleich sind, und noch weiß, welch armen Verhältnissen sie selbst entstammt?
Die Gastfreundschaft bei uns daheim spricht Bände. Während sich Chrissis Eltern für den Besucher Zeit nehmen und ihn zu jeder Mahlzeit einladen, wartet meine Mutter, bis er wieder geht, bevor sie zu Mittag ruft. Das war mir schon als Kind peinlich, ich könnte mich noch heute dafür in Grund und Boden schämen. Meine Mutter, so fiel es Christina auf, besitzt sogar die Dreistigkeit, sich vor dem Gast hinzusetzen und ein einzelnes Kuchenstück wegzumampfen. Allein essen macht fett! Aber Mutter würde sagen, es sei ihr gutes Recht; sie wird jährlich dicker.
Während der Schuljahre ertrug ich den Druck meiner ungastlichen Sippschaft ohne Zusammenbruch, doch in stürmischer Zeit gab es keinen vertrauenswürdigen Menschen zum Beistand. Niemals wollte ich durch Berichte über mein desaströses Leben die glücklichen Augenblicke beispielsweise mit meiner Schulfreundin Ruth entzaubern, außerdem teilte sie genügend eigene Kümmernisse und Beschwerden mit, um die Reste meiner Aufmerksamkeit angenehm zu zerstreuen.
Noch weit mehr Ablenkung erfuhr ich mit siebzehn Jahren, als ich begann, mich in Fragen der Lenkung des Gemeinwesens einzumischen. Für Politik besaß Vater keine Bohne Verständnis; durch welche Brille die Welt zu sehen sei, konnte er mir nicht vorschreiben. Obwohl ich vielleicht nicht das Zeug zur höheren Laufbahn mitbrachte, nahm ich jedes greifbare Amt wahr.
Wohlwollende Begleiter lobten meine Kenntnisse, das Aussehen und die Lust, etwas zu bewegen; sie verhalfen mir in immer höhere Körperschaften und Ausschüsse. Man sprach nur über Äußeres, niemand erforschte mein Eigenleben – es war nicht interessant. Ich verbrachte die Freizeit mit Sitzungen, beim Planen, Vorbereiten, Durchführen, saugte Begründungen auf und befragte mich kaum zu den Lehren, die ich weitertrug.
Als Jasager und Zustimmer genoss ich reichlichen Beifall der Mitstreiter. Ich verfolgte keine besonders gemeinwesentlichen Ziele, sondern suchte Respekt und Anerkennung. War ich auch bei den Mitschülern abgehakt, so schrieben die Tageszeitungen häufig mit Lichtbild von meinen politischen Erfolgen; als brennpunktsgeilen Mannschaftslenker im vielbeachteten Geschehen berauschte mich ein völlig neues Hochgefühl.
Verhängnisvoll war bloß mein grenzenloser Selbstanspruch. Ich zitterte, stotterte und bekam Schwindelanfälle in den entscheidendsten Momenten, Schwärze vor Augen. Danach haderte ich mit meiner mangelnden Befähigung, noch heute bereitet mir das Erinnern Übelkeit.
Trotz öffentlichen Aufstiegs ruhte ich keineswegs in seelischer Ausgeglichenheit, alles war eben nur eine Ablenkung. Allein oder im Elternhaus ging es mir kotzbeschissen, ich betrank mich zweimal am Wochenende und auch an Werktagen. Schöne Bierträume zeigten mir ein von elterlichem Wohlwollen unabhängiges Dasein als erfolgreicher Stadtrat, Abgeordneter, Heilsbringer. Am Ende jeder Feier oder Zusammenkunft war ich breit, weil es mir dann blendend ging und meine Genossen mich angemessen beachteten – dachte ich im Suff. Wir lallten sinnspruchwerfend um die Wette, wobei sich manch wichtiger Postenschacher entschied.
Mutter erkannte nicht den Ernst der Lage ihres Sohnes, auf den sie so schmeichelhaft angesprochen wurde. Der machte solch einen guten Eindruck, hatte jedoch die Flaschen zum Freund, hob vom Gemein- ins Wirtschaftswesen ab und vernachlässigte alles nebenher zu erledigende. Vater war meine Entwicklung nicht geheuer, da er mir als Kind eingebläut hatte, ein Taugenichts zu sein. Ich weilte immer seltener im kalten Elternhaus, wo unerträgliche Erinnerungen spukten.
Fernes Verkehrsrauschen, das Fenster steht offen, man hört Vögel zwitschern, Hähne krähen, Glocken läuten. Gold-braun-rotes Herbstlaub an den Bäumen leuchtet im Sonnenlicht vor eisblauem Himmel mit einer Kraft, die mich ans frische Wald-und-Wiesen-Grün des Frühlings denken lässt.
Schon wieder klingelt das Telefon im Gang. Ich zucke zusammen, denke, es könnten meine Eltern sein. Sofort schießt mir ins Hirn: Frag erst, wer am Apparat ist!
Den vormittäglichen Ausgang nutze ich zum Spazieren über das Krankenhausgelände. Es ist sehr weitläufig, ein großer Park, sogar mit Bauernhof. Ich werde demnächst Joggen, falls kein Dauerregen einsetzt; schließlich will ich mich ertüchtigen und nicht erkälten.
Leider macht einen dieser Markus ganz raschelig, er bedrängt und vereinnahmt mich voller Ungeduld. Gestern Abend wollte er mich achtmal nötigen, mit ihm Schach zu spielen, immer musste ich Nein sagen. Seit Tagen bin ich nicht mehr so erregt, ich möchte ihm ja nicht vor den Kopf stoßen und einfach motzen: Halt’s Maul und verpiss dich! Er ist zwar einen Kopf größer als ich, doch trotzdem schaut er zu mir auf – weil ich sieben Jahre älter bin? Bald kann ich keine Rücksicht mehr nehmen, ständig muss er sich beweisen. Ich falle in die Rolle des Lehrers, der ihn auffordert, keinen Unfug zu treiben. Grauenhaft. Er behauptet, einundzwanzig Jahre alt zu sein...
Wenn ich erkläre, dass ich mache, was ich für richtig halte, guckt er ziemlich sparsam und hat meinen Hinweis kurze Zeit später wieder vergessen. Ich schalte auf stur, lass ihn spüren: Ich brauche hier Ruhe. Ich gebe mich betont langweilig. Später erzähle ich ihm unnötigerweise von meiner Absicht zu joggen. Im Nu prahlt er damit, wie ausdauernd er laufen könne und kündigt an, mich zu begleiten. Na super! Herzlichen Glückwunsch, Junge, du wirst ihm im schärferen Ton klarmachen müssen, dass er nervt.
Für solche Menschen habe ich wohl magische Anziehungskraft. Oder lasse ich mich aus falsch verstandener Freundlichkeit zu sehr auf Personen ein, die ich gar nicht kenne? Es gab schon öfters Leute, die sich einfach meine Zeit genommen haben, eine Rolle in meinem Leben spielen wollten, obgleich ich sie lieber losgeworden und allein gewesen wäre. Ich bin viel zu gern in Gesellschaft anderer Menschen und wenn jemand reden will, gleich dazu bereit, nur möchte ich mich irgendwann auch wieder denen zuwenden, die mir wichtig sind und gut tun.
Nachmittags kommt endlich Christina, die ich schon sehnsüchtig erwartet habe. Unser Gespräch, beim Spaziergang am Ententeich in wunderschöner Herbstsonne abgehalten, ist alles andere als erfreulich, doch die Folgerungen daraus bestärken mich umso mehr.
Chrissi hat meine Eltern aufgesucht, Vater sei allein zu Hause gewesen, weinend habe sie ihm das Geschehene berichtet. Er sei wohl betroffen gewesen, sah den Grund aber in meinem Versagen an der Hochschule wie auch in unserer Trennung. Obwohl sie zu ihm kommt und alles erzählt, versucht er ausgerechnet ihr eine Schuld an den Vorfällen zu geben, trotz gegenteiligen Beteuerns! Meisterhaft verdrängt er jede Möglichkeit, es könne mit meinem Zuhause in Beziehung stehen. Zum Glück weiß Christina seit Juli, dass ich schwul bin. Danke, Herr, für die Kraft, ihr das zu sagen! Vater habe geäußert, es gebe doch auch in anderen Häusern Streit; er hätte damals bei seinem Alten Gründe besessen, sich umzubringen, hingegen ich...
Offenbar kann Vater nicht verstehen – die Gründe dafür sollen jetzt nicht mehr meine Sorge sein. Ich vergieße bittere Zähren der Hassliebe, während sie mir alles erzählt. Binnen einer Viertelstunde, so Chrissi, fing er an, von der Milchleistung seiner Kühe zu reden, sie hätte quer über den Tisch kotzen mögen!
Erst nach Mutters Ankunft wurde ich erneut Gesprächsgegenstand. Mutter sei sichtlich geschockt gewesen und in Tränen ausgebrochen. Sie habe gesagt: Er sucht irgendetwas, aber findet nichts, und ich weiß auch nicht, was es ist! Das stimmt mich nachdenklich. Sollte sie es begriffen haben? Doch nein: Christina erzählt, Mutter hielte es für gut, ich zöge daheim wieder ein.
Wenn sie dieses Gespräch mit meinen Eltern nicht geführt hätte, blieben mir Unsicherheiten, aber so? Danke, Chrissi! Du bist die Frau, der ich am allermeisten verdanke, es gibt keinen wichtigeren Menschen in meinem Leben, ich habe dich jede Sekunde unserer gemeinsamen fünf Jahre geliebt und liebe dich wider alle Logik noch immer!
Dr. Kemp sollte dich kennen lernen, schade, dass du morgen zur Uni nach Kiel fährst! Es verbleibt zwar der Draht nach außen durch meine Kommilitonen, die mir sicherlich helfen, den anfallenden Papierkram zu erledigen, doch ersetzen kann dich keiner.
Ich zeige Christina den schnuckeligen Pferdehof auf dem Krankenhausgelände. Vielleicht könnte ich dort arbeiten, wenn ich hier länger bliebe? Wir streicheln die Rösser auf der Weide, zu gern würde ich reiten lernen! Ich bin mir nicht ansatzweise über die Zukunft im Klaren. Ich werde Dr. Kemp ein paar Löcher in den Bauch fragen, aber mit Zurückhaltung, sonst versteht er mich falsch oder denkt, ich wolle in meiner Ungeduld wieder alles überstürzen.
Ich wälze mich schlaflos in der Nacht und erwäge, den Eltern einen Brief zu schreiben; so bliebe mir erspart, sie zu sehen. Ich käme der Verpflichtung – welcher? – nach, mich zu melden; indes erweckt solch ein Brief den Anschein, dass ich ihnen gerecht werden möchte, dann wäre es der falsche Schritt.
Vermutlich, verehrter Leser, sind Sie ein Stadtmensch und wissen kaum, wie viele Milchwarzen einer schwergewichtigen, schwarz-weiß gefleckten Kuh am prallen Euter hängen?
Diese vier Zitzen zwischen den Hinterbeinen gilt es so zu greifen, dass in kurzen Stößen kostbare weiße, heiße Milch in den untergestellten Eimer schießt. Eine überaus produktive Handlung ist das Melken! Ich habe mich manchmal auf dem elterlichen Hof damit beschäftigt, wenn ich im Stall arbeiten sollte. Beim Melken ist sie also sofort da, die Milch, die, ob frisch, vergoren, gestockt oder homogenisiert, jeder gerne mag und zum Frühstück oder als Zwischenmahlzeit verzehrt.
Milch ist ein hochwertiges, unabdingbares Lebensmittel! Wüssten die Leute aber, wie sie bei uns hergestellt wird, wäre sicher eine neue Welle des Körnerfressens zu erwarten, und die Sojamonokulturen fänden ungeahnte Ausmaße. Während ein Züchter sein Fleischvieh mästet, um es möglichst schnell und schmerzfrei zu töten, hat unsere Milchkuh noch einiges vor sich: Sie kriegt unser gnadenloses Hochleistungsfutter bis zum Platzen, nach der Geburt des ersten Kalbes liefert sie ihr ganzes Leben lang zweimal täglich Milch, der rasende Bezirksbefruchter spritzt ihr alle paar Monate stickstoffgekühltem Riesenbullensamen in die Scheide, unter Gebrüll bringt sie wenig später, nach kurzer Schwangerschaft und Milchpause, ein für ihr Becken viel zu wuchtiges Kalb zur Welt und überlebt kaum das nach der Geburt häufig eintretende Fieber – welch freudiges Ereignis!
Sollte sie wirklich keine Kraft mehr haben, entlässt sie der Bauer in das ruhestandslose Ableben. Hilft jedoch der herbeigeholte Tierarzt dem gebeutelten, teuren Tier wieder auf die Beine, gibt es kein Entrinnen. Manche Rinder, die viel Milch geben, halten trotz aller Widrigkeiten bis zu zwanzig Jahre durch; andere, die sich bei schweren Geburten verletzen, auch jene mit mangelnder Milchleistung, scheiden vorzeitig aus zur Fleisch- und Lederverarbeitung, in die Abdeckerei oder Seifensiederei. Voller Demut und Geduld erträgt unser Rind sein Nutztierschicksal, als diene es dem Menschen gern und wüsste um dessen göttlichen Unterwerfungsauftrag.
Eventuell kennen Sie als Stadtmensch den Geruch frischer Kuhfladen, den man als Landluft zu preisen pflegt, bevor man schnell verschwindet. Sie werden mir zustimmen, dass es für ausgewogene, gesunde Ernährung weit besser wäre, jeder hielte sich selbst Hühner, Schwein und Rind!
Kommt einmal der President zum Handshaking nach Berlin, so muss er auf dem roten Läufer vor der Air Force One geduldig ein paar Falten plattstehen, weil der Herr Bundeskanzler, mit gutem Beispiel voran, in Gummistiefeln und kotverschmiertem Kittel noch seiner Kuh beim Kalben hilft. Er dringt, beobachtet und verfolgt von der Pressemeute, soeben, während Mistfliegen die schweißbetropfte Stirn umschwirren, mit dem ganzen Arm in den Steiß, um die Geburtslage zu prüfen, wobei er in einem Fladen ausrutscht und die Brille an der schleimtriefenden... aber das wird in der Tagesschau ausgeblendet.
Unser Staatsdiener fürs Innere hält am Wochenende in seinem Heimatdorf statt der gewohnten mehrstündigen Rede eine eigenhändige Hofschlachtung ab: Man sieht ihn mit glitschigen Fingern fachmännisch Gedärm zerlegen, man sieht das blutrot besprenkelte weiße Hemd!
Vorbildlich durchwatet auch der Umweltminister, den Marienkäferbeutel aus Hanfgespinst schwenkend, die wiederbewässerte Torfstichbrache seines Wahlkreises, um den heimischen Gemüsegarten spritzmittelfrei vor Blattläusen zu schützen.
Sie werden mir zustimmen, meine Damen und Herren: Nicht nur Massentierhaltung gilt es zu verhindern – großflächiger Einzelanbau von Gerste, Hopfen, Weizen ist ebenfalls schädlich!
Chrissi hat außer den Alten auch meine Mitstreiter und so genannten Freunde gesprochen. In der Hierarchie sind Martin und Urs die einzigen, die positiv gesehen, in unserem Bezirk höher anzusiedeln wären; beide gehören genauso in mein politisches wie in mein privates Leben. Martin zeigte sich in dem Gespräch durchaus betroffen, aber ich kann mir vorstellen, dass er hauptsächlich von Christina beeindruckt war, weil er sie wohl gerne zur Freundin hätte. Wenn ich sie richtig verstanden habe, dann spielt sich da schon etwas ab – schön für sie.
Urs war geschockt. Das erstaunt mich nicht, es muss ihm ja vorkommen, als ob der Versuch geplant gewesen sei, schließlich habe ich ihm noch Donnerstag vor einer Woche den Ernst meiner Lage geschildert. Ob er sich verletzt fühlt? Keiner kann es sagen, er zeigt kaum Emotionen, das macht ihn zum guten Politiker; ich wusste nie, wie ich mit ihm umgehen sollte, erst recht nicht in der Frage meines Coming-Outs. Ach, Urs! Dabei hast du mir sogar Mut gespendet, mich von den Eltern zu trennen, ich war bloß zu feige dazu. Wird nun Funkstille zwischen uns eintreten, weil ich mich von den Saufgenossen der Politik zurückziehen muss? Ich hoffe, lieber Urs, du vergisst mich nicht!
Was Chrissi schafft, vermag kein Mensch zu leisten. Sie kümmert sich um die Abschlussprüfung, den kranken Papa, den ehemaligen Verlobten, die Kinder der vom Mann verlassenen Schwester; im Stall arbeitet sie auch noch, das alles in der vorlesungsfreien Zeit! Ihr zu helfen, wäre Zuneigung von falscher Seite, seit wir uns aus den genannten Gründen, nach fünf gemeinsamen Jahren, vor vier Monaten getrennt haben; trotzdem will ich ihr notfalls zur Seite stehen, soweit ich das dann bereits kann.
Christina hat so viele Sachen um die Ohren, sie braucht selber auch jemanden, an dessen Schulter sie sich lehnen kann. Martin und Chrissi – das wäre wohl gut, denke ich mir. Scheinbar mag sie ihn jedoch nicht ganz so gern wie mich. Sie sagt, es sei völlig anders, in seinem Arm gehalten oder von ihm geküsst zu werden. Na sicher, wir sind grundverschieden! Es ist etwas heuchlerisch, dass ich ihr Mut mache. Eine Trennung, verbunden mit einer neuen Beziehung, ist endgültiger, schließlich beginnen wir dann, uns innerlich zu lösen; aber vielleicht werden sie am Ende ihres gegenseitigen Kennenlernens gute Freunde sein, mehr nicht.
Markus geht mir jetzt restlos auf den Wecker. Als ich ihm verdeutliche, dass ich meinen Tag nicht nach seinen Wünschen ausrichte, blafft er: Pah, ich habe auch meinen Stolz! Da kann ich nur noch sagen: Bitte? Kaum zu ertragen, so ein Quälgeist! Einige Mitpatienten bekommen starke Medikamente, die ihr Bewusstsein und ihre Bewegungen beeinträchtigen; möglicherweise bedarf der liebe Markus solcher Plattmacher.
Ich sollte wohl auch meinen alten Schulfreunden Ingmar und Torben einen Brief schreiben. Beide sind über mein Coming-Out im Bilde, bisher haben sie zu mir gehalten. Torben müht sich redlich, da er Homosexualität aufgrund seiner katholischen Erziehung eher als Krankheit sieht. Schon Wichsen hält er für unanständig, der arme Kerl hat immer ein schlechtes Gewissen, wenn er sich einen runterholt, und glaubt, er dürfe es nie wieder tun. Es geht ihm wie mir bei meinen ersten schwulen Erfahrungen: Eine beschissene Situation, sich selber fertig zu machen und einem diffusen Schuldgefühl zu unterliegen, nur weil man das eigene Geschlecht begehrt! Ich sollte Torben noch einmal sagen, dass er sich eines der schönsten Dinge der Welt verschließt. Ob hetero- oder homosexuell: Ficken darf in unserer Generation kein Tabuthema mehr sein.
Ingmar dagegen erschien sogar auf einer schwul-lesbischen Fete, der Rosa Disco. Zwar ging er früh, doch Berührungsängste kennt er nicht. Wenn Männer mit Frauen tanzen, ist es ja umgekehrt für mich auch nicht so aufregend oder gar belästigend. In der elften Klasse fand ich Ingmar sehr anziehend; er sieht auf seine Art hübsch aus und ist ziemlich gut gebaut, er hat eine schöne Ausstrahlung, ein intelligenter Bursche.
Christina erscheint vor dem Abendessen und bringt außer Turnschuhen, Duschgel, Schreibzeug auch ihre liebe Schwester mit, von der ich den Besuch überraschend mutig finde, sogar die Kinder sind dabei. Wir genießen einen Spaziergang bei herbstlichem Sonntagswetter. Die Schwester möchte nicht lange bleiben; immerhin habe ich einiges mit Chrissi zu besprechen, sodass es mir recht ist, als sie mit den Kindern früher aufbricht.
Abends verspüre ich wieder große Leere. Den ganzen Tag habe ich mit mir gerungen, Dr. Kemp anzusprechen, doch ergab sich keine Gelegenheit. Morgen will ich endlich mit der Lauferei anfangen – ein selbstverliebter Schwuli braucht eben die Gewissheit, sein Äußeres nicht vernachlässigt zu haben.
Wo sich die Goldene Mitte der Gesellschaft trifft, am Stammtisch, beim Kaffeekränzchen, dort erdenkt und entwickelt sie, von leichten Anwandlungen der Freude oder Trauer begleitet, anhand sittlich-moralischer Grundsätze raumzeitlich begrenzte Meinungen über Grundfragen von Herrschaft, Beständigkeit, Fortschritt – wodurch sie jedem Individuum seinen Platz zuweist, sei er Freund, Verwandter, Bekannter, Ausländer, Sozialhilfeempfänger, was auch immer. Dies geschieht wie selbstverständlich, automatisch, ohne die kleinste Spur einer kritischen Reflexion. Jede Stimme darf sich am Stammtischkränzchen erheben, auf den Widerschall hoffen – hü, hott oder hossa! – und erfahren, dass dem Andersdenkenden wenig Freiheit der Lebensführung bleibt.
Treiben wir das Rind vom Glatteis auf den Mittelweg! Gewähren wir Geringverdienern und Minderheitlern Selbstbestimmung über die Kakerlaken- und Kellerasselzucht! Lösen wir alle Schwierigkeiten, indem wir den Weg der Goldenen Mitte befolgen! So kann endlich der Ruck durch die Gesellschaft gehen, den Roman Herzog einst gefordert hat.
Wenn jedermann bäuerliche Tugenden zeigen würde, hätte niemand mehr genug Freizeit, uns das Leben durch ehrenamtliche Mitwirkung am Erlass von tausenderlei Gesetzen, Regeln, Verordnungen bis aufs Klo und in die Kiste vorzuschreiben.
Intelligente Lösungen sind viel beschworen worden und zur Phrase verkommen, außerdem bleibt mir von intelligent immer nur das -ent, akustisch End-, im Ohr hängen – es ergibt im Zusammenhang mit Lösung ein schwer belastetes Wort. Diese Konstellation trifft die Realität, alldieweil fruchtbare Kontroversen der Kulturschaffenden und Freidenker in solcherlei Leersätzen ein jähes Ende finden.
Der Goldene Mittelweg indes ist pure Feig- und Faulheit. Keine Veränderung, Zielblindheit, Verfettung, Massenbewegungslosigkeit, Scheinausweg bei Entscheidungsfurcht, beleuchtete Abkürzung durch schrecklich unsicheres Gelände, langweiliger Weg ohne Eigenart, unendlicher Schrecken. Oh Herr, vergib uns, denn wir wissen nicht, was wir tun! Wir sind so faul, dass wir zu Taufe, Hochzeit, letztem Geleit ins Haus des Gekreuzigten gehen, ohne uns für oder gegen Deine Existenz zu bekennen. Kirchenaustritte haben in den meisten Fällen nur monetäre Gründe, der Gottesdienst passt nicht in unseren Arbeitsalltag.
Die Auffassungen der goldgrauen Mitte sind Maßstäbe, nach denen sich ein Mensch mehr als nach eigenen Gefühlen richtet oder verbiegt. Alles andere wäre zu anstrengend. Es könnte das Leben und dessen gewohnte Qualität verschlechtern, würde man Freiheit fordern oder Einsatz für sich selbst zeigen. Von den Mitmenschen drohen Verachtung, Missgunst, Neid, Isolation; durchzuhalten bis zur erlösenden Unabhängigkeit erfordert Toleranz und Geduld, doch mit jedem kleinen Erfolg gewinnt man Größe und Wesensart.
Falls Rückgrat und Selbständigkeit so weit gediehen sind, dass jemand zu seinen Schwächen steht, erkennen die Umgebenden den Neuen Menschen und können sich ihm nicht mehr in den Weg stellen; es folgt Bewunderung der Ruhe und Entspanntheit, die ihn Meinungsdruck ausgleichen und sein Leben meistern lassen. Natürlich gibt es unter uns manche, für die solche Erkenntnisse Binsenweisheiten sind – dennoch beschließen viele ihr Leben ohne dieses Bewusstsein.
Keine Veränderung.
Heute Morgen habe ich glatt vergessen, dass alle Zimmertüren verschlossen werden, und kein Schreibzeug mitgenommen, also lass ich das Notieren. Die anderen sind in der morgendlichen Gesprächsrunde, an der ich nicht teilnehmen muss; ich entscheide mich, den Ausgang für einen Dauerlauf bei Sonnenschein im abwechslungsreichen Gelände des Krankenhauses zu nutzen. Kleine Wälder, viele verschlungene Pfade, ein paar versteckte Ententeiche, ganz herrlich: durch den Park traben und an gar nichts denken. Danach fühle ich mich fast wie der junge Gefangene in The Loneliness of the Longdistance-Runner – richtig gut!
Anschließend suche ich Dr. Kemp auf – und bin wieder völlig orientierungslos. Wovor habe ich Angst? Was kann ich machen, wie geht es jetzt weiter? Ich höre in mir: Ich will nicht, ich will nicht, ich kann nicht mehr! Soll ich an der Hochschule bleiben, versuchen, die Klausuren zu bestehen? Wie trenne ich mich von meinen Eltern? Prompt wird mir schwindelig und schwarz vor Augen.
Dr. Kemp rät schlicht, dass ich alles überlegen und mich entscheiden soll. Es sind weitergehende Beschlüsse zu treffen, als mir bisher klar schien, sonst wäre eine Trennung nicht möglich. Ich muss mich von der heißgeliebten Karriere-Uni verabschieden, wenn ich unabhängig sein möchte; die schwule Entwicklung würde bei dauerhaftem Aufenthalt hier behindert, erst recht durch finanzielle Abhängigkeit von den Eltern, da ich keine staatliche Ausbildungsförderung kriege. Ich muss nun grundsätzliche Überlegungen anstellen, um mir ein Bild meines weiteren Lebens zu machen: Soll ich etwas anderes beginnen, was tu ich in der Zwischenzeit? Dr. Kemp erwägt eine Behandlung in der Tagesklinik: Man geht morgens hin, wie zur Arbeit, und abends nach Hause.
Gut, dass Chrissi kommt, beim Gespräch mit ihr erscheint einiges klarer. Sie schlägt mir vor, Krankenpfleger zu werden, witzig, daran habe ich selber schon gedacht. Was aber wird aus meinen politischen Ambitionen? Urs hat sich immer noch nicht gemeldet, hoffentlich habe ich ihn nicht allzu sehr verletzt und geschockt.
Auch am nächsten Tag laufe ich. Vielleicht wird mir das zur Gewohnheit, sogar bei schlechtem Wetter?
Inzwischen meldet sich mein Besuch vorher bei Christina an. Wahrscheinlich sind alle verunsichert, die von mir wissen. Morgen erscheine Martin, sagt sie, übermorgen Knut mit Maria. Von diesen beiden finde ich es besonders mutig; das hier ist kein gewöhnliches Krankenhaus, sie wissen ja nicht, in welcher Verfassung ich bin. Wir kennen uns kaum. Ob ich genauso mutig wäre? Dr. Kemp würde sagen, ich wolle, dass man sich um mich kümmert, aber ich möchte nur die Leute wiedersehen, die mir etwas bedeuten.
Um neunzehn Uhr ruft Reinhard an, plaudert eine Stunde lang mit mir und gibt schließlich zu, er sei ziemlich geschockt, seit er heute früh meinen Brief erhalten hat. Er will mir ein neues Tagebuch kaufen, ganz lieb, und morgen gemeinsam mit Thomas kommen, hoffentlich nicht zur gleichen Zeit wie Martin, der Chrissi taktvoll darauf hingewiesen hat, er und ich blieben wohl besser allein.
Menschen, die mit sich selbst in Einklang stehen, können viel verändern: Sie sind für große Ziele und Aufgaben bereit, betrachten sich unvoreingenommen, besitzen ein Begriffsvermögen, das nicht von Gefühlen verblendet ist, untersuchen die eigene Lage, bewältigen Schwierigkeiten durch Bereitschaft zum Handeln. Geduldig und zuversichtlich nehmen sie sich ihres Lebens und ihrer Umwelt an, ohne von fremden Einflüssen bestimmt zu werden.
Achtung vor jedem irdischen Geschöpf, Liebe zum Nächsten, zum gemeinsamen Lebensraum sind Grundlage einer Gesellschaft des Einklangs, wenn es diesen auch in Vollkommenheit unter Menschen kaum geben wird. Süchte jeder Art, ob leiblich, seelisch oder materiell, bedrohen ihn, indem sie das innere Gleichgewicht der Einzelnen stören. Jeder muss selbst sehen, wie weit er diesen Gefahren entrinnen kann, um sich der eigenen Harmonie zu nähern und seine Existenz so gut und schön wie möglich zu gestalten.
Eine ungeheuer langwierige Anstrengung, doch ist sie erstrebenswert, weil man an irgendetwas glauben muss – die Welt als solche, das Dasein, Freiheit –, sonst stellt sich gleich die Frage nach dem Tod. Glauben Sie an Freude und Möglichkeiten, die Ihnen Ihr Leben bietet? Ich glaube an Einzelne, die sich aus der goldgrauen Masse hervorheben, indem sie menschliche, rücksichtsvolle, wohltätige Ziele anstreben, denn unsere Gesellschaft bedarf so nötig der wenigen aufgeweckten Freidenker und Geister.
Einfacher ist es gewiss, den alten Bräuchen folgend, am Sonntag wie ein Schaf in den Kirchstall zu trotten, um sich seines Glaubens zu versichern. Dort lauscht man den Schwarzen Hirten bis zu zwei Stunden lang, falls man sich ausgeruht und aufnahmefähig fühlt. Bitte stellen Sie keine Fragen zum Geblöke des Oberschafs! Es ist unüblich, in der Kirchenscheune Fragen zu stellen. Ich kenne das aus dem elterlichen Kuhstall: Nicht denken, arbeiten! Beachten Sie vielmehr die Einsatzhinweise, blöken Sie mit der übrigen Schafsgemeinde! Das gibt Sicherheit und Vertrauen.
So blöken Tausende in ganz Deutschland. Gelegentlich gehen sie am Sonntag auch dafür wählen – es ist schließlich ein Wahlspruch, auf den man mit dem hohen C einstimmen kann. Der Gekreuzigte hat schon für alles gebüßt, wir danken ihm sehr. Halleluja! Dann ist jeder sechs Tage – mancher Obere dieses Systems vier Jahre – lang frei, rücksichtslos zu machen, was ihm gerade in den Kram passt.
Der Name des Gekreuzigten und des Vaters sei gepriesen in alle Ewigkeit! Amen.
Nach dem Frühstück findet ein verkrampftes Gruppengespräch mit Dr. Kemp statt. Die Schwestern der neuen Schicht halten alle Türen länger als nötig verschlossen, die Pfleger sind mürrisch, nehmen uns nicht zur Kenntnis, geben auf höfliche Fragen keine Antwort. Ein seltsamer Tag, obwohl Markus nicht mehr hier ist – er wurde durch eine andere kleine Nervensäge ersetzt.
Thomas, Reinhard und Martin kommen ungünstigerweise fast gleichzeitig. Sie verstehen sich soweit zwar recht gut, aber getrennt wäre es netter. Martin merkt bestimmt, dass Reinhard und Thomas schwul sind. Was er wohl darüber denkt?
Christina warnt telefonisch vor einem möglichen Besuch meiner Eltern; daraufhin stimme ich mich mit Dr. Kemp ab, abends daheim anzurufen, was mir total gegen den Strich geht. Ich werde ihnen ein Gespräch mit ihm für morgen vierzehn Uhr anbieten, sodass sie sich beruhigen und sagen dürfen, sie hätten sich um mich gekümmert.
Am Hörer wirkt Mutter tatsächlich erschöpft und verbittert. Heuchelei? Ich sage ihr, sie könne mich nicht besuchen, wohl aber mit meinem Arzt reden, worauf sie überraschend entgegnet, sie seien leider verhindert, da Vater morgen eine Ladung Zement erwarte. Es gibt Wichtigeres: Business as usual.
Heute ist es beschissen hier.
Dienstag soll ich mich in der Tagesklinik vorstellen; Mittwoch muss ich endlich meinen Pseudo-Therapeuten Westheim anrufen, der weiß noch immer nichts.
An den nächsten beiden Tagen macht sich eine merkwürdige Stimmung breit, die Seelenkranken verlieren den bitteren Spott und werden traurig; es scheint mir am Wetter zu liegen, der Himmel ist bedeckt, es nieselt gelegentlich. Das Gebäude ist von innen sehr dunkel geworden; im Aufenthaltsraum brennen Neonröhren und beleuchten die fahlen Wände, sonst sähe man kaum etwas trotz Tageslicht.
Nachmittags kommen die Alten. Es ist schwierig, ihnen aus dem Weg zu gehen, Dr. Kemp holt mich eigens aus der Beschäftigungstherapie; er schlägt mir vor, meinen Eltern wenigstens Guten Tag zu sagen und den Wäschesack selber zu übergeben. Er will mich offensichtlich austricksen, ihm ist klar, dass es nicht bei einem Gruß bleiben würde, weil er uns gleich in sein Gesprächszimmer leiten könnte. Ich will aber nicht! Ich bin nicht in der Lage, meine Peiniger zu sprechen und ihnen sonst was zu wünschen, ich möchte diesen Zeitpunkt allein bestimmen! Nachdem meine Eltern im Anschluss ans Arztgespräch eine Viertelstunde vor dem Fernsehzimmer gewartet haben, erscheint ein Pfleger und sagt mir, sie seien gegangen.
Ich atme auf.
Dann erscheinen Kurt und Maria. Erst habe ich wenig Lust, sie zu sehen, dennoch bin ich während des Besuchs froh über ihr Kommen; so kann ich meine Aufgeregtheit abbauen und später richtig nachdenken. Letzten Endes bin ich stolz auf mich; wie Dr. Kemp das sieht, ist mir inzwischen wurscht.
Reinhard ruft am Abend an und redet wieder länger als eine Stunde mit mir.
Glauben allein verhilft nicht zum Einklang mit sich selbst, zum Wohlbefinden. In diesem Zustand hätte ich mehr vom Leben! Doch wer kann von sich behaupten, ausgeglichen zu sein? Wer hat nicht beispielsweise schon mal auf der Straße über einen anderen Fahrrad- oder Autofahrer gelästert und heftige Entgleisungen zum Besten gegeben? Auf der ganzen Welt gibt es Hitzköpfe, die ständig hupen, wild gestikulieren, platte Schmähungen aus ihren Vehikeln rufen.
Fühle ich mich angesprochen, reagiere ich augenblicklich aus dem Bauch. Ohne mir der realen Lage und ihrer Nichtigkeit bewusst zu sein, antworte ich manchmal ebenso unwirsch, weil sich vorher bereits weitere Zumutungen angestaut haben. Prompt beleidige ich den Unbekannten als Arschloch oder Hackfresse, wenn ich ihm nicht noch den Stinkefinger hinterherzeige.
So gehen also zwei Menschen aufeinander los, die sich vielleicht gut leiden könnten, begegneten sie sich nicht unter diesen Umständen. Sie versuchen, den Gegner mundtot zu machen, sie überschreiten die Grenzen des Miteinanders, greifen zu roher Aggression. Menschlich? Unvorhergesehen brechen in dieser Situation Bildung und Bürgertum, Jahrhunderte wissenschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritts zusammen, weil zwei Leute Druck ablassen müssen, um sich in Steinzeitmanier öffentlich über den Fremden zu erheben: sozio-kulturelle Evolution ad absurdum. Gäbe man Verkehrsteilnehmern Keule, Messer, Steine in die Hand, so gliche unser Straßennetz bald einem grausigen Schlachtfeld.
Ich sehe Sie schon vor mir, mit grimmig-weißer Blutsaugerfratze und gefletschten Zähnen! Finden Sie diese Vorstellung nicht witzig? Offen gestanden, ich habe einen leichten Hang zur Übertreibung; ich stelle mir gern überzogene Bilder vor, die meinen Alltag einfärben, würzen, aufheitern, als ersten Schritt zur Unverkrampftheit, die uns Dinge lockerer sehen lässt. Fantasie und Lachen sind Möglichkeiten zur Entspannung.
Aberwitzige, abgehobene, sonderbare Gedanken, die gewiss auch entgegen Ihrer eigentlichen Wesensart in Ihnen keimen, verschönern Ihr Leben. Vergessen Sie Ihre Erziehung! Lassen Sie die Zwänge des gesellschaftlichen Zusammenseins in Ihrer Einbildung fallen! Wenn Ihnen im Alltag ein Mensch etwas Übles will und sein Mütchen an Ihnen kühlt, dann stellen Sie ihn sich einfach mal nackt vor, bis zum Hals versackt in seiner brodelnden heißen Scheiße! Arme Sau, verschrumpeltes Würstchen, wie es aus der Kloschüssel brüllt! Bemitleidenswert. Doch nun wünschen Sie ihm einen Guten Morgen und ziehen die Spülung. Das wirkt! Sie bauen keine schlechten Gefühle auf. Alle Wut Ihres Umfelds prallt an Ihrem Gelächter ab.
Am Vormittag werden Peter und Thomas entlassen. Gerade Peter wird mir fehlen, ein richtig netter Kerl. Ich hoffe, beide kriegen ihr Leben in den Griff. Ich drücke euch den Daumen!
Karsten helfe ich mit einigen Ferngesprächen, einen Anwalt zu finden. Ich weiß nicht, ob er recht hat, aber er will hier raus, und ich tue es einfach, ohne mir meinen Kopf darüber zu zerbrechen. Was soll ich mich um andere scheren?
Ich bin selbst an der Reihe. Mich zu einem schwulen Dasein bekennen; erst in die Tagesklinik gehen, dann vielleicht eine neue Ausbildung beginnen. An der Hochschule quält mich die Rechnerei in Baustatik zu sehr, als dass ich weiter dazu Lust hätte; ferner ist mir dieser Wirtschaftszweig nicht eigen.
Keine halben Sachen, ein frisches Lebensgefühl! Mich beharrlich trennen und nicht mehr grämen über die Missachtung meiner Eltern, vor deren Verletzungen ich fliehe; höchstens bedauern, dass ich gegen mich selbst vorgegangen bin.
Immerhin habe ich seit einer Woche kein Bier gesoffen, stattdessen rauche ich zwar wie ein Schlot, aber man kann nicht alles auf einmal ändern. Was wird nur, wenn ich hier wieder rausdarf? Ich muss mich zusammenreißen!
Kurz nach halb vier. Eigentlich müsste Reinhard jetzt kommen. Falls er sich für die Verspätung entschuldigt, werde ich sagen: Macht nichts, ich schreibe gerade! Dabei brenn ich auf sein Erscheinen. Ich habe ihn und Thomas verdammt gerne, sie treffen meine schwule Wellenlänge, oh, es kribbelt im Bauch! Ich freue mich schon darauf, mit ihnen etwas zu unternehmen, wenn ich draußen bin.
Sie erscheinen um vier. Reinhards Geschenk, das Tagebuch, hülle ich gleich in einen Schutzumschlag. Er erzählt, Thomas habe vom Zusammenstehenmüssen gesprochen, als Reinhard ihm einen Besuch bei mir vorschlug, doch ich hoffe, dass es noch ein bisschen mehr ist, denn morgen kommt er allein. Auch mit ihm kann ich mich gut unterhalten.
Es wird natürlich schwierig, sobald ein Fremder dazustößt. Heute ist es Martin, der um fünf die Gaststätte betritt. Reinhard erkennt sogleich die Lage und verabschiedet sich aufgrund vorgeschobener Einkäufe, der Schlingel. Dummerweise vergesse ich, ihm eine neue Unterhose zu überreichen, die ich ihm als Geschenk eingepackt habe. Thomas, denke ich, ist etwas umgänglicher als Reinhard, obwohl beide weder mit Urs noch mit Martin besondere Gemeinsamkeiten finden. Vielleicht erliege ich auch meinen Wahrnehmungen, aber Martin und Reinhard können offenbar nichts miteinander anfangen.
Am Ende unseres leider nur halbstündigen Gesprächs fragt Martin nach der Kandidatur für den Stadtrat, doch ich möchte noch nichts zu diesem Thema sagen. Freilich ist Beteiligung an Kommunalpolitik etwas gewesen, dass mich aufgebaut und geschult hat, mir Anerkennung und Respekt brachte. In unserem Kreisverband habe ich Mitstreiter und Parteifreunde gefunden, die meine Arbeit mit Zustimmung bedachten; diese Zeit hat mich geprägt und wird nie vergebens sein.
Ich habe so viel dabei gelernt und sollte nicht damit aufhören, aber ich muss es vom Elternhaus trennen. Die Stellwände müssen weg aus der Scheune. Kein Weg darf mich in Zukunft notgedrungen in dieses Dorf locken. Ich muss völlig unabhängig von den Alten sein, in jeglicher Hinsicht, sonst zerreißt mich die Sippschaft. Sollen die Saufgenossen sehen, wo sie große Aushänge unterbringen! Ich habe eigene Schwierigkeiten.
Dauernd gibt es jemanden in meiner Nähe, der mich nervt. Mir fällt manches auf den Wecker, besonders das überzogene Verhalten einiger Mitpatienten. David ist unverschämt und unbescheiden, keine Ahnung von der Welt, aber eine große Klappe, immer ein Widerwort auf den Lippen. Jetzt versucht er sich wie Peter im Dichten und liest fast jedem außer mir seine Stücke vor. Den armen Karl hat er zum Hanswurst gemacht, der sich sogar von ihm beleidigen lässt.
Seltsamerweise fällt es mir nicht schwer, mich über David aufzuregen, obschon ich weiß, dass in seinem Leben viel schiefgelaufen ist. Unvermittelt kriegt er einen Heulkrampf, und im nächsten Augenblick zeigt er wieder ein tumbes Großmaul, als könne ihn nichts beeindrucken. Ich hoffe, sie helfen ihm.
Am Freitagabend um zehn sitze ich ganz allein im Aufenthaltsraum. Der Fernseher schweigt, alle Leute liegen bereits im Bett, aus der Küche hört man das wiederkehrende Wasserschlagen des Geschirrspülers. Ich glaube, lange kann ich hier nicht bleiben. Ich will nichts überstürzen, aber Untätigkeit macht mich auf die Dauer rappelig. Bis zur Vorstellung in der Tagesklinik nächsten Dienstag harre ich noch aus. Was tu ich bloß, wenn ich rauskomme?
Fängt mich unser Wohlfahrtsnetz auf, damit ich nichts mehr von den Eltern anzunehmen brauche? Ich muss bestimmt mein Festgeld kündigen, das reicht zwar nicht ewig, aber immerhin. Danke, Chrissi, für deine Warnung, es nicht in guten Zeiten auszugeben, ich benötige jetzt jeden Taler. Einen Berg Papiere muss ich abtragen, beispielsweise Lohnsteuerjahresausgleich oder Unfallschmerzensgeld; ich darf das nicht sausen lassen, schließlich steht es mir zu.
Demnächst muss ich umziehen. Ich suche mir eine billige Wohngemeinschaftsunterkunft und verkaufe ein paar Einrichtungsgegenstände, weil sowieso nicht alles in ein kleines Zimmer passt.
Ich bräuchte vorläufig eine Aushilfsstelle, als Maurer will ich nicht mehr arbeiten. Auf dem Bau ging die Sauferei doch erst richtig los. Abends nach der Tagesklinik könnte ich noch etwas machen, aber ob es gut für die Behandlung ist? Außerdem möchte ich in den Stadtrat... das wäre wohl zuviel, oder?
Vater und Mutter haben meine Zurückhaltung und Bescheidenheit im Rahmen der Verwandtschaft stets als selbstverständlich hingenommen. Mein Bruder, zwar kaum stärker gebaut, aber zwei Jahre älter, konnte sich meist über mich hinwegsetzen und seine Ziele verfolgen. Unseren Wettstreit haben die Eltern durch ihre Vergleiche geschürt. Jeder von uns wollte mehr Zuneigung und Anerkennung bekommen als der andere, es gab sie jedoch nur für außergewöhnliche Leistungen auf dem Hof, im Haus, in der Schule.
Freizeitvergnügen – Hobbys wie Lesen, Schwimmen, Joggen oder Musizieren – hielten die Eltern für überflüssig. Da wir weit draußen wohnten, war es für uns Kinder schwierig, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Unsere Mitschüler gehörten Vereinen an und sahen sich nachmittags, woraus ihnen zahlreiche Freundschaften erwuchsen, ich dagegen hatte zur Schulzeit nie einen wirklichen Freund oder Kumpel.
Außer vielleicht ab der siebten Klasse Ruth, die ich noch heute sporadisch sehe. Sie ist ziemlich tratschig, aber ich mag sie wegen ihres guten Geschmacks und Kunstverstandes. Damals unterhielten wir uns, hörten Pop oder gingen tanzen. Trotz ihrer allseits beachteten Schönheit kam es nie zu Annäherungen, wie sie zwischen Jugendlichen geschehen, ich hatte auch kein Verlangen danach. Ob sie das wusste? Sie wird sich bei mir sicher gefühlt haben, sonst hätte sie nicht immer wieder angerufen. Die anderen Jungs glaubten, ich sei hinter ihr her, was mir ganz recht war. Albern!
Die Abiturprüfung bestand ich dank einiger Zufälle. Seit einigen Jahren ließen die Zeugnisse zu wünschen übrig, das Wissenschaftsverständnis schwand bedenklich. Nachhaltig plante ich, meinem leidigen Dasein ein Ende zu bereiten. Ich hatte glücklich werden wollen, hier und jetzt. Ich erträumte mir die schnelle Wende meines jugendlichen Lebens, meine Eigenschaften und Neigungen empfand ich als ekelhaft. Vollkommenheit sollte das Hässliche überdecken, Christina mir zu Ansehen verhelfen.
Zum achtzehnten Geburtstag schenkten mir die Eltern einen dicken Daimler, der mich den Mitschülern endgültig verhasst machte. Auch Chrissi fand ihn oberprotzig. Meine Alten waren zu dumm zu sehen, was sie ihren Kindern im schlechten Gewissen antaten, sie wollten nur ihr eigenes Ansehen mehren. Das Erscheinungsbild der Familie nach außen ist wichtig als Barometer für ihr subjektiv empfundenes Glück: Ein junger, politisch engagierter Abiturient und Bauernsohn im großen Benz mit vorzeigbarer Freundin gab eben etwas her.
Meinem Schulabschluss zollten die Eltern kaum Beachtung, er war wohl am Ende für sie selbstverständlich. In meinem durch Christina erstarkten Eigenwertgefühl grollte ich ihnen schwer, dessen ungeachtet sich das Unglück schon abzeichnete – ich verlor immer häufiger die Fassung, war maßlos feindselig. Dieses Verhalten ist auch auf den regelmäßigen Wochenendsuff zurückzuführen, der in meiner Persönlichkeit deutliche Spuren hinterließ.
Heute ist ein schöner Tag, nicht nur wettermäßig: Ein angenehmer Morgen, kein Gespräch mit Dr. Kemp, freundliche Pfleger und wenige Patienten, da viele Ausgang haben. Der kleine Hannes nervt, aber er ist zu ertragen, man kann ihm leicht Grenzen setzen.
Den ganzen Nachmittag lang empfange ich Besuch, zuerst kommt Chrissi, dann Thomas, telefonisch angekündigt durch Reinhard. Thomas versteht sich prächtig mit ihr, er ist echt liebenswürdig. Nachdem sie gegangen ist, kann ich mich sogar über Systemkritik und andere politische Themen mit ihm austauschen, er weiß ziemlich gut Bescheid.
Beim Gespräch mit ihm durchfährt mich wohlige Wärme, als ob ich Thomas bei einer Arbeit zusähe, die er mit Hingabe, Feingefühl und Liebe ausführt. Er erweckt in mir ein Gefühl von Sicherheit und Fürsorge. Eindringlich versucht er, mir seine Standpunkte oder Ansichten zu erklären. Es berührt mich sehr, fast möchte ich sagen, ich hätte ihn mehr als nur lieb gewonnen. Wie seltsam das läuft, vor lauter Hingerissenheit vergesse ich, ihm die Kastanie mitzugeben, die ihn an mich erinnern soll, ich alter Trottel.
Hoffentlich bleiben Thomas und Reinhard noch lange gute Freunde. Bisher habe ich geglaubt, es gebe niemanden, der auf meiner Wellenlänge schwingt, aber manchmal belehrt uns das Leben eines Besseren.
Trotz extrem langweiliger Phasen in dieser Klinik geht die Woche schnell um: Schon wieder Montag. Gestern ist nichts geschehen, ich hatte keinen Besuch. Chrissis Buch habe ich durchgelesen.
Andreas, mein furchterregender Zimmernachbar, verabschiedet sich von mir, da er die Abteilung wechselt, er schläft jetzt im Haus der Seligen. Hoffentlich kriegt er alles geregelt, er ist so ein Dreckspatz. Trotzdem ein lieber Typ. Dagegen werden David und Karl immer zudringlicher. Sie haben sogar gewagt, meine Aufzeichnungen zu lesen, jetzt wissen sie, dass ich schwul bin.
Gegen halb vier kommt Reinhard erneut. Sein freundliches Lachen bringt mich sofort in gute Stimmung. Ich überreiche ihm das kleine Geschenk und ernte noch ein Lachen. Da macht Einpacken Spaß! Reinhard bietet mir an, Weihnachten mit Thomas und ihm sowie einem weiteren Freundespaar zu feiern, gemeinsam ins Schauspielhaus zu gehen und bis Silvester bei ihm zu bleiben. Ich bin völlig platt. Das ist mehr als nur eine Ehre, ich nehme dieses liebe Angebot sofort dankend an.
Nach einem Rundgang begegnet uns Urs vor der Gaststätte. Wir bemühen uns um Lockerheit, will sagen, es ist ein bisschen schwierig, wenn sich zwei Fremde unterschiedlichen Wesens in so einer Situation auf dem Gelände eines Krankenhauses begegnen. Zu allem Überfluss stößt noch Christina mit einer Freundin hinzu, was zur gänzlichen Verwirrung der Anwesenden führt, weil jeder bemüht ist, sich angemessen zu verhalten.
Mit allen pflege ich unterschiedliche Beziehungen und Vertrauensebenen, gleichwohl sie mir individuell jeweils auf ihre Art sehr wichtig sind. Reinhard zeigt sich plötzlich von ganz anderer Seite und verliert seine ausgeprägte Wortgewandtheit.
Chrissi bleibt nur kurz, Reinhard geht wenig später. Da kann Urs endlich loslegen. Die Gespräche mit Thomas und Reinhard waren wesentlich entspannter. Urs hat viele Fragen, unsere politische Zukunft betreffend. Ich gewähre ihm die Freiheit, meinen Aufenthalt denjenigen zu erklären, die es angeht, doch er stellt mir ein Ultimatum! Ich solle mich bis zur nächsten Woche entscheiden, ob ich für den stellvertretenden Kreisvorsitz kandidiere, da diese Frage keinen Aufschub dulde. Außerdem müsse ich einige Leute in der Partei anrufen und ihnen eine Erklärung geben, irgendetwas, womit sie zufrieden wären, nicht unbedingt die Wahrheit.
Inzwischen nimmt meine Zukunft Gestalt an, ohne dass ich besonders viel täte. Die Zeit läuft und mit ihr das Geschehen; ob ich will oder nicht, ich bleibe an den Entwicklungen beteiligt, sogar, wenn ich nur über die Situation nachdenke und entscheide, nicht zu handeln. Andere handeln, falls nicht ich.
Die verbleibenden Hauptschwierigkeiten sind Vater und Mutter. Ich denke, ich werde bald den nötigen Mumm haben, mit ihnen zu sprechen. Das Beste wäre eine Gesprächsrunde mit Dr. Kemp. Vielleicht am Ende der Woche?
Erneut bringen sie jemanden her, den die Bundeswehr fertiggemacht hat. Dieser Laden scheint mehr Schaden anzurichten, als dass er uns nützt, weil dort ausbricht, was Eltern und Lehrer bei der Erziehung vermurkst haben: Unter Dienstbelastung treten psychische Schwächen hervor.
Als meine Grundausbildung im Wehrdienst nach drei Monaten beendet war, durfte ich wieder zu Hause schlafen. Die Kaserne lag nur eine Viertelstunde Fahrzeit mit dem Auto von unserem Hof entfernt. Den Alten war das recht, da ich ihnen zumindest bei der Ernte helfen sollte. Keine Frage, ob ich überhaupt wollte. Mir selbst war es damals auch lieb, konnte ich doch in der Nähe von Chrissi bleiben, die dennoch immerhin fünfundsechzig Kilometer entfernt wohnte.
Mit Bruder Alkohol ertrug ich psychische Belastung durch das hierarchische System und die Vielzahl an Spacken recht gut, es lag besonders an meiner anerzogenen Unterwürfigkeit und meinem auf Ordnung bedachten Verhalten. Ich habe mich gefügt und nicht besonders hervorgetan, was mich in den letzten Monaten geärgert hat. Ich leistete stets mehr als andere.
Die Vorgesetzten mochten mich wegen meiner politischen Ambitionen nicht, sie erwarteten Übererfüllung der Pflicht, fassten mich härter an als andere Wehrdienstleistende. Mein Posten beschäftigte mich den ganzen Tag. Dauernd sorgten sie dafür, dass ich zusätzliche Aufgaben bekam, die sofort zu erledigen waren, obschon sie von meinem vollgestopften Tagesablauf wussten. Reine Bosheit! Ich bin zu gutgläubig und gehorsam. Selbst bei der schlampigen Bundeswehr habe ich mir ständig Stress gemacht. Arbeit im Stab des Bataillons war für mich zwar in Ordnung, manchmal sogar interessant, aber die Höherrangigen merkten schnell, wie sie meinen Ehrgeiz und meine Sucht nach Anerkennung ausnutzten konnten.
Am Ende wurden einige Soldaten, die nicht gerade durch kontinuierlich gute Leistung in Erscheinung traten, zu Hauptgefreiten befördert, während ich Obergefreiter blieb und damit weniger Geld einstrich, wie eigentlich fast jeder andere auch. Ärgerlich, dass ausgerechnet meine direkten Vorgesetzten diese Beförderungen erteilten, solche Ungerechtigkeiten versetzen mich noch heute in Raserei.
Endlich spreche ich in der Tagesklinik vor. Einer freundlichen Therapeutin, Frau Straubing, die meine Überforderung zu verstehen scheint, erzähle ich gleich, dass ich schwul bin. Sie hält eine baldige Aufnahme für möglich und sinnvoll, falls nach einer Probezeit beide Seiten zufrieden sind und ich zuvor eine Weile in eigenen vier Wänden gelebt habe, um zu sehen, ob ich überhaupt fähig bin, Freizeit allein zu verbringen und mich zu beschäftigen, ohne auf dumme Gedanken zu kommen.
Dr. Kemp möchte erst mit Frau Straubing reden, ehe wir etwas unternehmen, hat aber schon gesagt, dass ich gehen könne. Ich soll am Freitag anrufen und meine Meinung sagen, doch habe ich mich eigentlich bereits dafür entschieden. Die Tagesklinik ist sehr schön eingerichtet. Meine Geldfragen lassen sich regeln, während ich dort bin. Ich will nicht mehr Bettler im Haus der Eltern sein.
In der Stadt läuft mir ein Schulfreund über den Weg, der mich nicht erkennt, worauf mir in den Sinn schießt, Christina anzurufen. Sie macht sich wegen ihrer Examensarbeit völlig verrückt. Jeder soll sie lesen, alles muss bis zum Gehtnichtmehr verbessert werden. Es gelingt mir, Chrissi ein wenig zu beruhigen.
Auf der Station erleidet Stefan in Gegenwart von Freundin und Mutter einen Weinkrampf, der arme Kerl. Er ist ziemlich lieb, hat nur bedauerlicherweise unter den Psychopharmaka gelitten. Seine Bewegungen sind unkoordiniert, die Aussprache schwer verständlich. Er hat mir ein altes Foto von sich gezeigt, darauf sieht er blendend aus und voller Kraft. Jetzt ist er völlig runtergekommen, besitzt keinerlei Lebensmut. Shit! Das können auch die oft unterschätzten weichen Drogen anrichten.
Sich mit Leuten ohne Schnaps amüsieren, Ödnis in der Tagesklinik ertragen, abends total unruhig sein und bei Nacht nicht schlafen können: Im Laufe der ersten Woche lerne ich, mit meiner neuen Freiheit umzugehen. Ich trinke zu viel Kaffee, doch Alkoholabstinenz rechtfertigt diesen Missbrauch. Angesichts möglicher Nebenwirkungen, die Frau Dr. Hesse erwähnt, vertrage ich das angesetzte Medikament, bei halbstündigen Schwindelanfällen, vergleichsweise gut.
Die Patienten sind nicht besonders gesprächig, außer einer Aufgetakelten namens Petra, um die ich auf der Straße einen Bogen gemacht hätte. Sie könnte vom ersten Eindruck her in einer Bar beschäftigt sein, aber das besagt gar nichts. Petra ist nett, wir albern herum, wann immer es nicht gerade stört, dadurch langweile ich mich nicht mehr so oft.
Leider bleibt sie nur einen halben Monat: Sie wolle vor Weihnachten wieder in einer Kneipe arbeiten. Bitte, Petra, was möchtest du? frage ich sie in Gedanken. Also doch! schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht muss sie noch ein paar Schulden, pardon, abreiten – ich weiß: ungerecht und vulgär.
Einige andere kommen und gehen. Ich erledige Koch- und Hausdienste. In der Tonwerkstatt beginne ich, eine Büste zu modellieren. Von der Hochschule habe ich mich beurlauben lassen. Mutter ruft an und teilt mir mit, im Kasten liege ein Brief des Ordnungsamtes: Strafzettel wegen Falschparkens. Am liebsten hätte ich gesagt: Heul doch!
Frau Dr. Hesse ist für zwei Wochen im Urlaub, diesen verlängert sie nochmals um die gleiche Zeit. Mit ihrem Ersatz, dem Sozialarbeiter Wierzig, komme ich anfangs nicht klar; jetzt haben wir eine Gesprächsebene gefunden.
Fast zwei Monate ist es nun her, seit ich mir das Leben nehmen wollte. Meine Rast- und Ratlosigkeit will kein Ende finden. Die Pillen verlieren ihre Wirkung, ob ich sie nehme oder nicht, spielt offenbar keine Rolle. Die Arbeit und der Umgang mit den anderen enthüllen – daran haben Gesprächsgruppen großen Anteil – allerhand verbesserungswürdige Seiten an mir.
Ich bleibe abends und am Wochenende, wenn ich unterwegs bin, länger weg als je zuvor. Das hilft zwar bei der Suche nach dem Schwulsein, weist aber auch darauf hin, wie wenig ich mit mir allein anzufangen weiß. Ich habe nette Leute kennen gelernt – ich fühle mich einsam unter ihnen. Einzelne Nächte verdeutlichen mir, wie schön das Leben zu zweit sein könnte. Ich war immerhin fünf Jahre mit Christina zusammen gewesen; wir unternahmen viel und konnten uns gegenseitig trösten, sobald es einem von uns schlecht ging. Ich habe mich daran sehr gewöhnt und vermisse es.
Ich weiß noch, dass ich mich in der achten Klasse danach sehnte, von den anderen Schülern wahrgenommen und anerkannt zu werden, doch galt ich als ordentlich, fleißig, strebsam, als mausgrauer Langweiler. Da ließ mir ein Witzbold aus dem gleichen Jahrgang eine Scheinfreundschaft zur Verarschung zuteil werden: Er duldete meine Nähe, aber benutzte mich – und ich Rabensohn wollte plötzlich außer Haus übernachten.
Ich heuchelte meiner treusorgenden Mutter besondere Zuneigung und ein schlechtes Gewissen vor, damit sie mir widerstrebend erlaubte, am Wochenende bei Hartwig zu schlafen. Wir kippten uns abends in der Dorfdisse so viel Schnaps und Bier in den Rachen wie möglich, bis mir schlecht wurde; Hartwig vertrug weitaus mehr als ich. Gegen eins torkelten wir zu ihm nach Hause und schlichen uns am Schlafzimmer der Eltern vorbei – aber seine Mutter wusste am nächsten Morgen stets, wann wir wieder gekommen waren.
Es geschah erst ein-, dann zweimal und öfter, dass mir Hartfick eine geile Geschichte erzählte – ich kriegte sofort einen Ständer. Er bediente sich meiner und grabbelte an mir herum, er packte meinen Schwanz – einfach so. Ich wusste dem entwaffnenden Griff nicht zu begegnen, ich hatte keine Ahnung, nur ein schlechtes Gewissen. Das Bier, besonders der Gedanke an die Eltern lähmten mich ganz und gar.
Es war erniedrigend, wie Hartwig den Vorteil des Größeren, Stärkeren genoss und mit mir umsprang, doch zugleich zog mich seine unsagbare Handlung zu ihm hin, dem ersten Mann, der mein Geschlecht wahrnahm. Seinen Schwanz ließ er sich blasen, bis ich vom Bölkstoff anfing zu würgen und fast kotzte, er steckte mir den Zeigefinger in den Arsch, ich stöhnte – auch vor Schmerz.
Ich war ihm gewissermaßen hörig, und was Hartwig Spielerei nannte, bedeutete für mich ein erstes sexuelles Erlebnis, dass mich mit Gefühlen durchstürmte und nachhaltig erschütterte. Wäre ich auch lieber einem anderen Knaben meines Jahrgangs zärtlich näher gekommen, so blieb eine größere Erfüllung wohl kaum zu erwarten. Fern lag mir jede Vorstellung, mit einer Frau zu verkehren.
In den Folgejahren gab es weitere Jungen, mit denen ich zufällige geschlechtliche Erfahrungen teilte, die den ersten glichen, doch keine war so einprägsam; sie bestätigten nur meinen Glauben, es ginge nicht anders. Suche nach sexueller Identität und Schutz vor körperlich-seelischer Gewalt hat mein heutiges Wesen beeinflusst: Wem könnte einfallen, dass ich ein schwuler Mann sei?
Dann gibt es einen merkwürdigen Zwischenfall. In der Tagesklinik haben Rüdiger und ich gerade die Mahlzeit beendet, als Bodo, der mittlerweile entlassen ist, herantritt: Er erzählt uns, er sei mal von einem Mann vergewaltigt worden! Nun hätten wir mit dem Patienten Ralf einen Schwulen unter uns – wir sollten ihn verstehen, wenn er sich in Zukunft etwas zurückziehe und schweige.
Wozu das denn jetzt? Mein Herz beginnt sofort schneller zu schlagen und pocht gegen die Rippen. Einigen gegenüber habe ich mich schon als Schwuler zu erkennen gegeben, sodass es früher oder später auch an Bodos Ohren dringen würde, doch ich zögere. Was Bodo und Rüdiger nun noch reden, erreicht mich nicht mehr. Mir dreht sich der Magen um, ich könnte eigentlich direkt zur Toilette rennen und kotzen, aber das ändert ja nichts. Nur die eine Frage schwirrt in meinem Kopf: Sage ich es ihm oder nicht? Trotz inneren Bebens und Zagens entscheide ich mich dafür.
Mein spontanes Coming-Out verschlägt beiden die Sprache, es hat im Grunde nur ein Tusch, ein Paukenschlag gefehlt. Bodo sieht aus, als herrschte plötzlich dreißig Grad Frost und sein Nacken wäre schlagartig eingefroren, ebenso Mimik und Gestik. Er kann es nicht glauben und fragt noch Stunden später, ob das ein Scherz gewesen sei. Seither fühlt er sich bei allem, was ich sage, angegriffen und meidet jedes Gespräch mit mir, er sagt nicht mal mehr Hallo.
Das Verhältnis zu Rüdiger hingegen ist besser geworden. Er habe ebenfalls einen guten schwulen Bekannten, sagt er irgendwann. Eine halbe Woche darauf lässt er mich wissen, auch er sei von einem Mann vergewaltigt worden, doch Bodos Verhalten erscheine ihm lächerlich. Ich beschließe, dieses Zusammentreffen dreier Schicksale als Zeichen meiner Entwicklung hinzunehmen.
Zwei Tage lang prüfe ich Chrissis Examensarbeit.
Ich habe ein Gespräch mit Dr. Kemp, das über weite Strecken wie ein Streit verläuft und mich erneut verwirrt; immer wieder gehe ich seinen Sprüchen auf den Leim. Er verabschiedet sich mit dem Ratschlag, ich solle mich nicht selber anklagen.
Saufgenosse Christoph besucht mich, bei dem ich zweifele, ob er meinet- oder seinetwegen kommt. Es gelingt mir, ihm gegenüber ein schwules Selbstbekenntnis abzulegen, doch verunsichert mich sein vorwurfsvoller Ton, der erst im Laufe des Gesprächs abebbt.
Ich habe zu Christoph kein sehr liebevolles Verhältnis, obwohl er zuverlässig und freundlich ist. Er erscheint mir unnahbar; er wird kaum solch ein zufriedener Mensch sein, dass er niemals Kummer loszuwerden hätte, er verdrängt jede Trauer, er glaubt, keine Schwächen zeigen zu dürfen – das unterscheidet uns völlig. Ich erzähle ihm alles, lade meine Sorgen ab, frage ihn nach seiner Sicht der Dinge, weil er gut analysieren kann; ich vermisse aber menschliche Wärme und eine erhoffte Anteilsnahme, ausgeprägter noch als bei Martin.
Die Polit-Freunde betrachten mich als Sorgenkind, obwohl gerade Christoph stets meine Offenheit und Hilfsbereitschaft hervorgehoben hat. Ich fühle Einseitigkeit, das ist keine Grundlage für Freundschaft; er möchte Kumpel sein, doch er bleibt ein Stück zurück. Es wird mir aus heutiger Sicht schwer fallen, die Beziehung aufrecht zu erhalten; Begegnungen mit Urs und Martin verliefen bisher viel herzlicher.
Am Wochenende verbringe ich eine Probenacht zu Hause. Wenn alles gut abläuft, mache ich anschließend in der Tagesklinik weiter. Dann findet bestimmt auch, im Beisein Dr. Kemps, ein Gespräch mit den Eltern statt.
Endlich bin ich nicht mehr bloß der untätige Psycho.
Ich bringe die Parteigenossen, soweit wie eben notwendig, auf den Stand der Dinge. Einer bietet mir ein klärendes Gespräch an, aber der andere ist aufgrund meiner unerklärlichen Abwesenheit genervt. Sie hatten bei Mutter angerufen, von der sie wohl barsch abgewiesen wurden. Sie wollten mir eine Aufmerksamkeit zukommen lassen, als sie vernahmen, ich sei im Krankenhaus. Blumen und Weinbrandpralinen in die Klapse! Mal sehen, was aus diesen Zwangsverhältnissen wird.
Meine Alten erwarten mich zu Weihnachten gewiss daheim auf dem Hof. Da werde ich sie enttäuschen. Ich sitze Heiligabend nicht mehr unter ihren Tannenbaum und singe fröhlich: Ihr Kinderlein kommet, so kommet doch all! Vielleicht statte ich ihnen am ersten Weihnachtsfeiertag einen Besuch ab, das war es dann. Weshalb sollte ich mich mit fiesen Erinnerungen an verdorbene Feste quälen, an Geschrei, Gezeter, Backpfeifen, Schläge, Elternstreit und Enttäuschungen, an Furcht, Schmerz, Tränen, Ohnmacht und Schuldgefühle?
Ein Trauerspiel namens Fest der Liebe. Zwar nimmt von Jahr zu Jahr die Zahl der Mimen ab, werden Rollen gekürzt oder ganz gestrichen, doch ist das Stück anpassungsfähig, selbst wenn kleine neue Nachwuchsdarsteller teilnehmen. Womöglich verläuft es diesmal – denn auch das ist schon geschehen – so ruhig und friedvoll, wie der Name dieser Feier verheißt.
Aber vor Überraschungen ist niemand gefeit – die Schauspieler glänzen jährlich mit frischen, an Kuriosität nicht zu überbietenden Einfällen, thematisieren auf abstrakter Ebene ihre das Jahr hindurch gepflegten und aufgestauten Abneigungen und Aggressionen. Ich bin es jedenfalls leid, entweder den Sündenbock oder den diplomatischen Versager zu spielen. Ein großer Mime verlässt die Heimatbühne – neuer Hauptdarsteller gesucht! Jeder ist ersetzbar.
Geld beherrscht die Welt. Alles andere wäre Gefühlsduselei. Liebe? Leerer Begriff, Worthülse, kenne ich aus der Schule, hat niemand zu mir gesagt, angesprochen oder erwähnt. Du sollst Vater und Mutter ehren!
Ich leide unter dem Bloßliegen meiner Nervenstränge, die nach Zärtlichkeit und Zuneigung lechzen. Welch ein Wunder! Wann immer ich diese Sehnsucht ansprach, wurde ich zur Ordnung gerufen, verspottet; die Eltern quittierten solch eine Äußerung mit Kopfschütteln. Mein Bruder hat das schneller und besser begriffen als ich. Er hat danach gehandelt, ist jetzt Tyrann dritter Generation. Vielleicht war mein Urgroßvater genauso ein Querulant, augenscheinlich kann man mit Griesgrämigkeit in unserer Familie alt werden.
Mit Reinhard bin ich immer besser befreundet. Vor einer Woche kam er plötzlich zu Besuch. Wir redeten die ganze Nacht miteinander, beseitigten Unklarheiten, munterten uns gegenseitig auf. Neben Chrissi ist er der einzige Mensch, der mich ohne Worte versteht. Ein attraktiver Mann! Ich überlege nur manchmal, ob ich nicht störe, wenn ich Weihnachten mit ihm und Thomas feiern sollte. Auch von Christina und ihren Eltern habe ich eine Einladung für die Feiertage bekommen. Ich habe abgesagt: Familie, nein danke.
Reinhard gefällt mein Zimmer so sehr, dass er mir seine Rumpelkammer gar nicht zeigen mag. Er hat Musik auf dem Rechner komponiert, die mir total gut gefällt. Ein echter Künstler, aber das hört er nicht gern, will er nicht gelten lassen. Unordnung passt zu ihm, ich habe keine Schwierigkeiten damit – wider Erwarten. Genie und Wahn liegen dicht beieinander. Er kann bestimmt noch viel mehr meistern.
Ich esse mit Rüdiger zu Abend. Wir besuchen den schwulen Bekannten, von dem er erzählt hatte. Die beiden streiten sich ungeachtet meiner Anwesenheit über eine gemeinsame Freundin. Ich hasse solche Situationen, so was kann man doch wirklich anderen ersparen, es sei denn, man muss sich unbedingt vor fremden Leuten produzieren, weil man sich minderwertig fühlt. Kenne ich das?
Unverhofft höre ich von meinem alten Bundeswehrfreund Olli, der das Geschäftszimmer unserer Kompanie leitete und dafür sorgte, dass wir nicht zuviel Wachdienst schieben mussten. Er studiert derzeit an der Universität Hannover. Er spuckt auch nicht gerade ins Glas, wenn es ums Trinken geht. Ich habe ihn drei Jahre nicht gesehen. Christina sagte mir, er hätte sich erstmals gemeldet, als ich bereits in der geschlossenen Abteilung war, ohne zu wissen, was geschehen sei.
Als ich dann wieder im Studentenheim wohnte, rief er dort an. Seither haben wir uns schon zweimal gesehen. Ich sagte ihm, dass ich schwul sei – und er mir dasselbe! Ich fand diese Begebenheit nahezu unfassbar. Er besuchte mich sogar mit seinem hübschen Freund. Das nächste Mal trafen wir uns in der Rosa Disco. Warum, lieber Gott, lässt Du Olli gerade jetzt in mein Leben treten? Ich bin völlig durcheinander.
Mein Leben ist nun erneut in Schwung gekommen, ich bin aus Teilnahmslosigkeit und betäubendem Suff herausgetreten. Leider fällt es mir schwer, diesen Zustand aufrecht zu erhalten und meine Vergangenheit weiter zu verarbeiten. Noch ist nicht viel geschehen: Ein Minderwertgefühl lähmt etliche Bereiche meines Daseins, Beklemmungen arten zu Hass oder Überschwang aus, nur Augenblicke liegen zwischen Hochstimmung und Schwermut.
Oft kann ich im Alltag nicht vernünftig und aufmerksam handeln. In meinem Benehmen entdecke ich kindisch übertriebene Freundlichkeit, verbissenen und falschen Ehrgeiz, Argwohn, Feindseligkeit. Falls ich wirklich gerade dabei bin zu erkennen, was in mir vorgeht, so hilft es nicht. Ich will mich künftig im Leben zurechtfinden, mit mir allein zufrieden sein, meine Kraft ausschöpfen. Bloß mit klarem Kopf nehme ich Gefühle wahr, ohne dass sie einfach über mich hereinbrechen.
Alkohol hat mich nicht nur zeitweise benebelt, sondern auch die nüchternen Verhaltensabläufe verändert. Manchmal entschwanden Situationen und meine Reaktionsausfälle so schnell, wie sie gekommen waren, im Nichts. Ich hatte keine Möglichkeit, sie wahrzunehmen, geschweige denn zu reflektieren. Sucht ist hinterhältig und führt in einen immer dichter werdenden Teufelskreis; dieser Prozess schleicht sich in der Regel über längere Zeiträume ein, nicht unter fünf Jahren, wie meine Erfahrung bestätigt.
Die bisherige Vorgehensweise – schöne Formulierung für Untätigkeit – meine Probleme und Fragen von der Zeit lösen zu lassen, hat nicht zum Ziel geführt; sie alle schweben noch wie dichte, geisterhafte, höhnisch lachende Schwaden im Raum und bewegen sich auf mich zu, wenn ich versuche, nach vorne zu schauen. Nun habe ich die Möglichkeit, eine zu packen, ihr das Grinsen auszutreiben, sie unbeschadet zu durchschreiten, denn was kann mir geschehen, oder um es mit meiner Konfirmationslosung auszudrücken, Psalm 56, Vers 5: Ich will Gottes Wort rühmen; auf Gott will ich hoffen und mich nicht fürchten. Was können mir Menschen tun?
Ich möchte einen neuen Weg beschreiten. Vermutlich erhoffe ich mir davon zu viel, wenigstens ist es ein Ausblick.
Christina schenkt mir, mit goldenem Lackstift auf grünen Karton geschrieben, ein Gedicht von Paul Roth, das folgendermaßen beginnt: Man kann sich nicht ein Leben lang die Türen alle offen halten, um keine Chance zu verpassen. Sie meint, ich müsse mich entscheiden und losgehen. Bei dieser Aussicht wird mir heiß und kalt zugleich: Entscheidungen fürs Leben! Eine Tür öffnen, andere schließen. Mutter sagte doch immer, ich kann alles, wenn ich bloß will...
Lag es noch gestern an mir, ob ich endlich lerne zu handeln, so bin ich seit heute unter Zugzwang: Die Krankenkasse gewährt nur bis zwei Wochen vor Jahresende die Kostenübernahme. Schnöde Realität: Es geht ums liebe Geld. Für mich scheint damit alles auf dem Spiel zu stehen. Herr Wierzig beruhigt mich, ich könne Widerspruch einlegen.
Enttäuschungen. Abweichende geschlechtliche Wunschbilder, die mich befriedigen sollten, stiegen mir vor den Augen auf, dann Schuldgefühle. Ich tat etwas Unerlaubtes, dachte mit Lust an Verbotenes, lechzte danach, anschließend Schuld! Ja, ich bin schuld. Abartig, versaut, unanständig. Pfui, igitt. Erniedrigt mich doch alle, tretet auf mir rum! Ich bin ein Schwein. Bi-Schwein? Nicht nur das: Ich bin schwul. Bäh! Ein schwuler Hund, Weichei, Tunte, Schwuchtel, Schwuppe, Arschficker. Habe Scheiße am Schwanzhaar, sehe aus wie ’ne Frau. Blondes blauäugiges blödes Mädchen!
Luft. Ich brauche Luft, ich will leben! Ich kann nicht. Statt Leben kam Verdrängung, Wunschbilder wie immer. Freiheit des Andersdenkenden? Ich bestrafe mich selbst für Gedanken, die das Gesetz der Sippenmenschen missachten.
Chrissi half. Zum ersten Mal bekam ich Liebe, Anerkennung, Zärtlichkeit. Wie? Ich habe sie schamlos mit ihren Gefühlen erpresst. Macht doch jeder! Liebe durch Gewalt, welch eine Grundlage. So möchte es die Norma homo familiae: Eine Frau muss her! Chrissi fällt drauf rein. Das Ende braucht knapp fünf Jahre, die zunehmend Angriffe gegen mich herausfordern. Die selbstzerstörerischen Attacken kommen häufiger, der Schaden in Körper und Psyche wird bei jedem Exzess deutlicher.
Am Ende der Beziehung gibt es zwischen Chrissi und mir keine Zuneigung und Liebe mehr, nur Funktionssex. Plötzlich auf den eigenen Füßen stehen! Mut zum Coming-Out habe ich besessen, doch dann keinen Mut mehr zum Leben. Einsamkeit und Leere, gejagt und gefragt von den Eltern, allein.
Was machen? Schwindel. Woran festhalten? Flucht. Alkohol, treuer Aufheller meiner Gedanken, Lichtblick im Sumpf, prost, guter Freund! Sauf, Brüderlein, sauf, lass den Verstand in der Flasche!
Wozu jetzt noch trinken? Ich möchte sterben, man soll mich vergessen. Aber Chrissi, wird sie es schaffen? Ich will nicht mehr. Jeder Versuch aussichtslos, keine Möglichkeit zu erklären. Verlierer, der nichts zustande bringt, Gegenstand ewiger Streitereien. Mein Bruder, ja, das ist ein toller Hecht, der schafft alles, auch mich. Ich? Der Achtung nicht wert.
Die vergangenen Wochen haben bewiesen, dass ich viele Begleiter habe, die mir in jeder Lage beistehen. Trotz allem hält etwa Chrissis ganze Familie zu mir: Sie zeigen, dass sie mich mögen, so wie ich bin, einschließlich Fehlern und Schwächen. Es gibt Menschen, die noch an mich glauben, mir gegenüber Hoffnungen hegen und für mich beten, gleichwohl sie jeden Grund hätten, mich nach gesellschaftlichen Maßstäben abzuhaken.
Die Beziehung zwischen Christina und Martin wird fester. Momentan ist auch er mir recht nahe. Dieses merkwürdige Dreiecksverhältnis beruht auf der Tatsache, dass er sie schon immer begehrte und ich mich nun geoutet habe. Bevor aber hiervon jemand Kenntnis hatte, unternahm ich einen Suizidversuch, der Martin moralisch – heuchel, heuchel – potentiell in Bedrängnis brachte, dabei gab es zwischen uns keine Differenzen.
Letztlich kann Chrissi nicht ewig mit Martin Versteck spielen, unser Volk der Nachbarn und Denunzianten würde seinen Ruf als Steuerberater schädigen. Ihr zuliebe will ich dafür sorgen, dass dies nicht geschieht, und klarmachen, dass ich die neue Beziehung sogar billige. Darf ich jetzt irgendetwas von Martin erwarten? Was Chrissi betrifft, so bleibt sie hoffentlich noch lange meine gute Freundin, ich hoffe, wir finden eine Lösung.
Zu den Freunden, die mir zur Seite stehen, gehört auch Ingmar. Er besuchte mich kürzlich und war geschockt, als ich ihm erzählte, was geschehen sei. Ich wusste nicht, wie ich es ihm sagen sollte, habe mich vielleicht nicht einfühlsam genug herangetastet. Er schaute fast vorwurfsvoll, ich hatte beinahe den Eindruck, jetzt würde er sich von mir abwenden, aber dann erzählte er, ein alter Kumpel hätte vor Jahren ebenfalls einen Selbstmordversuch begangen, ohne dass man vorher etwas von dessen Sorgen mitbekam.
Das sei jetzt auch bei mir so, er empfinde deswegen ein sehr schlechtes Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Für einen heterosexuellen Mann habe ich ihn unterschätzt, manchmal mimt er den starken Kerl, doch hinter dieser Fassade steckt anscheinend ein sensibler Mensch. Vorhin hat er angerufen und gefragt, wie es mir geht. Unsere Freundschaft war bereits in den letzten Jahren gewachsen, jedoch verspüre ich nun eine seltsame Nähe, die uns verbindet; ich kann jetzt über alles mit ihm reden und fühle mich sicher, wie ich es von anderen Gesprächen her nur mit Christina kenne.
Dass eigene Eltern die größten Feinde werden, ist bestimmt nicht die Regel, dennoch liebe ich sie wie ein Kind, ich kann nicht anders; zwar ist es schon eine Hassliebe geworden, aber meine Gefühle ihnen gegenüber sind so stark wie seit je.
Vater und Mutter sprechen mich, in Abwesenheit, der Enttäuschung ihrer Erwartungen schuldig und verurteilen mich, ohne Verhandlung, zu lebenslänglichem Liebesentzug auf Bewährung.
Was habe ich erhofft? Sie führen ihr altes, mir gut bekanntes Schauspiel auf, als sei es ein Klassiker, den man wieder von ihnen erwarte. Voller Innbrunst gaukeln sie jedem die unschuldigen Eltern vor, deren Sohn sich restlos übernommen hat und es niemandem einzugestehen wagt. Die Sozialarbeiter haben sie auf dieses freie, sichere Feld gelockt, wo sie sich von ihrer Schokoladenseite zeigen wollen, was nicht gelingt, weil ihre Zungen durch Gefühle geleitet werden.
Vater wirft mir gleich anfangs vor, sie abzulehnen. Sie seien enttäuscht, dass ich mich nicht gemeldet hätte; immer sei ich nur kurz nach Hause gekommen, um schmutzige Wäsche zu waschen – was gar nicht stimmt. Spricht er jetzt sogar mit gespaltener Zunge? Ich glaube, ich überschätze ihn: Er weiß bloß, was Mutter behauptet. Gereinigt habe ich die Kleidung jedenfalls bei Christinas Mutter; außerdem bekam ich keinen Krümel vom Bauernhof, sondern habe stets bei Chrissis Eltern gegessen.
Ach, alles lapidare Aufrechnerei, die jetzt beginnt, ich bin es so leid. Meine Angst, mein Zittern stoppen nicht ihre Rechthaberei, beflügeln sie eher. Lang und breit erzählt Vater von seiner Landwirtschaft und dem neugebauten Stall. Er merkt nicht, dass die Sozialarbeiter ihn längst verarschen und nicht ernst nehmen. Geht mir ein Licht auf?
Mutter schweigt derweil, da sie ihre Gefühle nicht zu verbergen vermag. Sie ist völlig überfordert, sitzt verkrampft auf dem ihr zugewiesenen Stuhl und bringt plötzlich außer Tränen und vorwurfsvollen Blicken kaum etwas heraus. Sie weiß um alles, was in unserer Familie je geschehen ist, sie kann bloß zusehen, wie Vater sich mit hilflosen Erklärungen einen Weg an seinen Gefühlen vorbeibahnt, sie bemerkt entrüstet meine für Vater unvorstellbare Offenheit in dieser Runde: Wie kann ich es wagen...! Ihr bedeutet mein Benehmen den Verrat an der Familie schlechthin, obwohl sie doch Ausreden und alles nur Denkbare angeboten haben, um mir zu helfen – also ein heiles Familienbild zu erhalten.
Die Eltern wollen das offizielle Gespräch nutzen, sich von jeder Schuld reinzuwaschen. Vater sagt, anfangs hätten sie sich gegenseitig Vorwürfe gemacht. Sie nehmen meinen Suizidversuch als Anlass zum Streit, weshalb?
Selbstmordversuche zeigen es doch offenkundig: Ein Mensch leidet in seiner jeweiligen Lage so sehr, dass er den Tod vorzieht. Er nimmt sich jede Möglichkeit zur Existenz, er bringt sich ums Leben durch diesen Akt. Nach eigener Ansicht vermag er die Situation nicht zu bewältigen, er schafft es auch nicht mehr, Hilfe zu rufen – es sei denn, die Tat ist so zu werten: als Hilferuf.
Die Alten verstehen das nicht. Sie verteidigen sich am besten durch Angriff und Anschuldigung. Mögen sie nun gut schlafen, zumindest Vater; Mutter klagte stets, sie liege wach wegen ihres ungeratenen Sohnes. Für meine Ziel- und Hilflosigkeit kann ich sie nicht verantwortlich machen.
Das Gespräch mit den Eltern bringt in keinerlei Hinsicht Lösungen, im Gegenteil. Meine Erwartungen waren zu hoch gesteckt. Bei der Nachbesprechung wird mir empfohlen, mich nicht mehr selbst als Betreuer zu bemühen. Ich besuche Martin und Chrissi, deren Mutter mich für Sonntag zum Hasenbraten einlädt. Sie ist noch immer einer der liebsten Menschen in meinem Leben.
Ich schaffe es wieder einmal, ein Wochenende zu verbringen, ohne mich mit Alk zu berauschen. Auf Reinhards Geschmacklos-Party, der ersten Feier nach meinem Selbstmordversuch, knutschen viele verkleidete, geschminkte Tunten; ich trinke keinen Tropfen und stelle fest, dass ich nicht saufen muss, um Spaß zu haben, im Gegenteil, es ist nur lustig, wenn ich klar im Kopf bin. Ich scheine sogar bei den Leuten durch meine temperamentvoll unterhaltsame Art anzukommen – Rumpelstilzchen tanzt im Hinterhof der Anhangdrüse, wo die Geschlechtsbotenstoffe ausgestoßen werden.
Eine Polit-Sitzung unseres Kreisvorstandes am Montag verläuft dagegen verheerend. Der Plan, einen profillosen, neurotisch karrieregeilen Nachwuchs-Elite-Politiker beim Drang nach höheren Ämtern zu stoppen, misslingt, weil Urs, unser Vorsitzender, nicht anwesend ist; er hatte die Marschroute ausbaldowert.
Im Wohnheim unterbricht mich Karen manchmal während des Schreibens mit einer Tasse Tee, die Gute. Bisweilen labert sie mich voll, aber oft ist es auch schön, wenn sie abends einfach hereinschaut oder morgens mit mir frühstückt. Sie tritt zwar sehr bestimmend auf und lässt für Schlamperei keine Entschuldigung gelten – herzlich und lieb ist sie trotzdem. Sie erzählt mir gern ihre Erlebnisse. Bisweilen kommt ihre Freundin Steffi von der Uni, dann finden die beiden einen Mann, auf dem sie, Frauenfrust entladend, herumhacken können. Heute habe ich sie noch nicht zu Gesicht gekriegt, es geht ihr wohl nicht so gut.
Chrissi überrasche ich beim Anfertigen eines Weihnachtsgeschenkes für mich, ich lasse mir selbstverständlich nichts anmerken. Der Hasenbraten ihrer Mutter schmeckt super. Chrissi meckert über die Erziehungsmethoden ihrer Schwester, die Veränderungen daheim erträgt sie auch nicht so leicht. Sie möchte eine liebevolle Tante sein, es tut ihr nun weh, wenn sie von der Hochschule zurückkehrt und gar nicht unbedingt gebraucht wird – alle haben gelernt, ohne sie auszukommen, es geschafft, unbetreut ihre Aufgaben zu erledigen.
Beispielsweise profanes Kuchenbacken, Chrissi hat es gerne zu Hause getan. Für sie ist es vertrackt, und für mich? Sie beendet ihre Erzählung weinend in meinem Schoß, ich umarme und tröste sie. Sie hat einiges zu ertragen, da bringt frisch gebackener Kuchen das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen. Trotz allem hält sie durch, eine starke, ausdauernde Frau, klarer und geduldiger, als ich es jetzt bin. Ich wünsche ihr, dass Martin ihr genügend Halt gibt, sonst fürchte ich, sie ist mit ihren Kräften irgendwann am Ende.
Ich kann nicht schlafen: Aufregung, Aufbruch, Neuanfang. Andersrum? Ich habe mich dazu durchgerungen, eine Pflegerausbildung in einem Krankenhaus zu beginnen, dann wird sich zeigen, ob ich meinen hohen Ansprüchen genüge. Mir ist anerzogen, in besessener Duldsamkeit eigene Grenzen niederzureißen, als ob ich selber keine Rolle spielte; so habe ich viele Dinge für die Eltern und meine selbstgezüchtete soziale Umgebung ausgehalten und hingenommen. Hilfreich und edel sei der Mensch, besonders wenn er schwul ist; kompensieren, was das Zeug hält, sonst bin ich ein schlechter Sohn. Wie sollte ich widerstehen, solange ich kein stabiles Rückgrat hatte?
In einem Anfall von Größenwahn und Selbstverliebtheit beginne ich heute, wenige Wochen vor dem vierundzwanzigsten Geburtstag, meine Erinnerungen aufzuschreiben, denn dieser Gedanke lässt mir schon lange keine Ruhe. Mag sein, dass mal jemand Ähnliches erlebt hat und eine eigene Geschichte erzählen kann, vielleicht auch deren persönliche Fortsetzung. Diese Zeilen sind ein Teil meines Lebens; ich beginne, mit ihnen zu leben, und ich würde mich gerne mit anderen Menschen darüber austauschen.
Ein Uhr fünfzehn. Wieder befällt mich dieses ekelhafte Jucken im Slip, obwohl ich seit Wochen versuche, vom Kratzen loszukommen. Das heilt kein Goldgeist auf lange Sicht! Meine Klamotten gammeln dunkel und kalt im Schrank, um der zähen Brut flüchtiger, gleichgeschlechtlicher Safer-Sex-Liebe zu Leibe zu rücken. Wäre ich doch zumindest von der Krätze langsam frei, nur Jakutin hilft noch! Das tötet alles, dank krebserregendem Lindan.
Reinhard hat sie auch und wird sie nicht los. Woher bloß? Wenn der wüsste, dass ich dafür verantwortlich bin, oi, oi, oi! Und die ganzen anderen lieben Jungs in der letzten Zeit. Ja, ich befinde mich gerade in einer Phase – der promiskuitiven. Ich habe häufig wechselnden Geschlechtsverkehr ohne eheliche Bindung. Am Ende steht es noch in der Morgenpost: Schwuler Ostfriese bringt unersättliche Filzlaus nach Hamburg! Klagen Opfer auf Schmerzensgeld?
Bisher ist mir nicht klar, ob ich in der Lage bin, diese Aufzeichnungen fortzusetzen. Es tut, rückblickend betrachtet, dann und wann ziemlich weh. Meine Aufsätze wurden in der Schule meist nicht beachtet, ich sollte es dabei bewenden lassen. Schmerzte damals schließlich auch.
Für den Optimisten ist das Leben kein Problem, sondern bereits die Lösung, befand ich mit siebzehn, wählte diese Eingebung Marcel Pagnols zum Leitsatz und stimmte ihr in meiner schäbigen Jugendzeit zu. Zeitweilig waren diese Worte eher ein Leidspruch, der mir ab und zu sarkastisch, witzig, lächerlich, rätselhaft, spöttisch, quälend, wehleidig oder tröstend, manchmal auch ganz und gar unpassend, den Einstieg ins Leben sichern sollte, da mir sonst niemand verlässlich Wahres oder Aufrichtiges gesagt und gezeigt hatte.
Sein arroganter Hochmut bestärkte mich in einer ignoranten Haltung, die ich in Niederlagen und Erfolgen wahrte. Ich sah zu, wie andere lebten, ich wollte nichts fühlen, ich hatte Angst. Ich spritzte mir durch diese Worte Weisheit wie tödliches Gift in die Venen. Es tat seine Wirkung: Meiner Mutter liebes, braves Söhnlein war fortan ein bisschen krank im Kopf.
Bin ich trotz des Gesprächs mit den Eltern vor dem Wochenende in recht ausgewogener Verfassung gewesen, so geht es mit mir gesundheitlich seit Montag bergab.
Eine Unterredung mit dem Sozialarbeiter bringt mich vollends durcheinander, obschon es auch manche Perspektive eröffnet. Ich werde gebeten, den Entschluss zu prüfen, Weihnachten gar nicht zu Hause zu erscheinen. Ich könne mich wenigstens kurz dort blicken lassen, um einen Mittelweg zu beschreiten, statt meine Eltern durch Abwesenheit herauszufordern – den grau-goldenen Mittelweg...
Es erscheint mir immer schwieriger, ihnen gegenüber eine klare Haltung einzunehmen. Sollten sich die berechnenden Spielchen künftig fortsetzen? Mit den Träumen der letzten Tage steigt wieder der Gedanken an Selbstmord in mir hoch. Wenn der Versuch nun geklappt hätte? Ich spüre Einsamkeit in meinem Kopf.
Ich weine zum ersten Mal in der Gesprächsrunde. Ich soll ein Bild malen, auf dem ich über eine Brücke gehe, doch mein Ausblick endet im Nichts. Ein kurzer, fahlgelber Lichtschein, dann weiß-grau-schwarzer Nebel, sonst nichts.
Bevor wir durch den Schlosspark spazieren, besucht mich Karen zum Teetrinken. Sie bringt mich wieder auf andere Gedanken.
Verehrter Herr Professor Neumann,
unglücklicherweise hat mich gleich der vergangene Monat in die traurige Lage versetzt, einen Beitrag zu Ihren geplanten Fallstudien liefern zu können, deren Konzept Sie unserer Gesellschaft auf der letzten Tagung vorgestellt haben.
Es handelt sich um Notizen eines meiner ehemaligen Patienten, dessen Geschichte im dortigen Gesprächskreis bislang unerwähnt bleiben durfte. Der junge Mann hat während seines Aufenthalts im Landeskrankenhaus, wohin er nach einem Suizidversuch gebracht worden ist, Erlebnisse und Gedanken niedergeschrieben. Der beabsichtigte Freitod und die auf dessen Ausbleiben folgende Lage sind Anlass, die Geschehnisse des gesamten Lebens zu prüfen. Er bemüht sich zu ergründen, was ihn ins Scheitern geführt hat; um den überstandenen Einbruch zu bewerten, beschreibt er seine Sicht der Welt und wie er sich darin fühlt.
Der junge Mann verspürt trotz Selbstmordabsicht Lust zum Leben, wusste bisher aber nicht, wie er es führen sollte. Er überblickt eine Kindheit auf dem Bauernhof, die Schulzeit in der nahe gelegenen Kleinstadt, die dortige Jugend, das Heranwachsendenalter bei der Bundeswehr, Berufswahl, Ausbildung, ein lokalpolitisches Engagement sowie Freundschaften und fragt sich, was er nunmehr machen kann. Ohne Zweifel müssen Veränderungen bewältigt werden, denn alle Bereiche seiner Existenz sind von der Sprengkraft zweier Probleme bedroht: Homosexualität und Suchterkrankung.
Die facettenreiche, bunte Welt schwulen Lebens, dem er sich in ersten Schritten annähert, birgt Unmengen an Möglichkeiten wie auch Gefahren beim Bemühen, sich körperlich, seelisch und geistig auf das eigene Wesen einzustellen und es anzunehmen. Dabei behindert ihn eine Neigung zum Trinken, deren Hintergrund er in seinen Berichten ansatzweise erkennt, als er sich an traumatische Erlebnisse zu erinnern beginnt. Noch immer verbindet er Ängste und Zwänge mit den Jahren des familiären Erzogenwerdens auf dem Lande. Seine Eltern nehmen eine beherrschend negative Rolle ein.
Eine fünfjährige Liebesbeziehung ist gerade beendet worden, aber die Freundin erscheint mit ihrer Familie weiterhin in positivem Licht, denn sie steht ihm während des Klinikaufenthalts und gegenüber den Eltern bei. Er fürchtet bevorstehende Umwälzungen und kann die Gefährtin noch nicht loslassen; er zweifelt an der eigenen Leistungsfähigkeit, fühlt sich überfordert. Ein angemessener Berufsabschluss erscheint ihm in unerreichbare Ferne gerückt. Mitstudenten im Wohnheim sind bloße Bekannte; alte Freunde aus Partei oder Schule, denen ein Teil der Gedanken gilt, gibt es nicht vor Ort.
In Tagesberichte von der Station finden sich Schilderungen vergangener Erlebnisse eingelagert, ebenso Betrachtungen auch des größeren gesellschaftlichen Umfeldes, mit dem er hadert. Das Vertrauen in die Grundfesten des Daseins ist erschüttert, mit Witz und Spott zeigt er seinen Blick auf die Dinge.
Mir wird nun schmerzlich ein weiteres Mal bewusst, wie eng die Grenzen des Gesichtsfeldes und der Vorausahnung abgesteckt sind – hatten wir doch den jungen Mann längst als wieder gekräftigt aus der Überwachung entlassen und unsere Aufmerksamkeit erneut jenen zugewandt, deren seelisches Leiden uns noch viel schwerer und lauter erscheint.
Unter von den Eltern zurückgelassen Besitztümern entdeckten wir seine Notizhefte, die ich Ihnen in Ablichtung beifüge. Möge es Ihnen und später auch den Lesern Ihrer Untersuchung gelingen, solch stillen Mitteilungen Hinweise zu entnehmen, die mir leider entgangen sind, um den Ernst der Lage des Betroffenen rechtzeitig erfassen, Hilfe anbieten und Auswege aufzeigen zu können.
Jedoch enden diese Niederschriften schon geraume Zeit vor seinem Tod. Kein Abschiedsbrief ist in der Jacke des jungen Mannes gefunden worden – bloß der Beipackzettel.
Ich verbleibe mit allerbesten Wünschen für den Erfolg Ihres Forschungsprojektes
Ihr Dr. Kemp
Jetzt ist es also vollbracht, mein Junge: Tausendmal bist du dran vorbeigefahren, hast auf die Fenster geblickt und dir Gedanken gemacht – und nun bist du selber drin, im Landeskrankenhaus, in der Abteilung für Männer römisch zwei – der Volksmund sagt: Klapsmühle |